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Das Maß

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

Wenn jemand, auf der Straße oder in einem Café, seinen Arm in die Höhe streckt und mit Daumen und Zeigefinger eine Geste macht, die bedeutet: So klein!, dann denke ich sofort und immer noch an den Mann im Erdgeschoß.
Ich bin zwölf und wir treffen uns jeden Nachmittag im Hof. Ich besitze ein hellgrünes Rennrad, ein Zehn-Gang-Rad, und wie die anderen habe ich den gebogenen Rennlenker nach oben gedreht, so dass ich damit leichter das Vorderrad in die Höhe reißen kann. Meistens sind wir zu viert oder fünft, manchmal kommen auch die anderen aus dem Nachbarhof, dann sind wir über zehn. Das Spiel, das wir spielen, ist so ähnlich wie Radball, aber wir haben unsere eigenen Regeln. Das Tor ist ein kleines, vergittertes Kellerfenster, es gibt zwei Mannschaften, der Ball kann mit dem Vorderrad gespielt werden oder mit dem Fuß, das ist egal, auch mit dem Fuß kurz den Boden zu berühren, ist erlaubt.
Es geht darum, mit dem Fahrrad aufeinander zu zu rasen und einander den Ball abzujagen. Wie lange kann man auf dem Hinterrad balancieren und wer getraut sich, in allerletzter Sekunde vor der Wand abzubremsen? Es geht darum, seinen Mut zu beweisen und sich auszutoben. Wir schreien, wenn wir in einer guten Position zum Tor stehen, wir schreien, wenn der andere abspielen soll, und wir schreien so laut wir können, wenn wir ein Tor geschossen haben und unser Selbstwertgefühl in den Himmel steigt. Gerald ist besser als ich, er schießt die meisten Tore, ich bin besser als Klaus und besser als Andreas.
In diesem betonierten Innenhof gibt es auch ein großes, eisernes Garagentor und wenn wir vom Spiel oder von einem Streit richtig aufgeladen sind und uns abreagieren müssen, dann donnern wir den Ball gegen dieses Garagentor. So laut, so scheppernd, dass man es in allen Häusern ringsum hören kann. Der Mann, der im Erdgeschoß des Hauses wohnt, zu dem der Hof gehört, muss dreißig oder vierzig sein, auf keinen Fall ist er älter. Auf keinen Fall ist er ein alter Mann, der im Krieg gewesen ist. Er hat ein dickes, rotes Gesicht und dunkle Haare, für uns sieht er aus wie ein ganz gewöhnlicher Erwachsener, wie ein ganz gewöhnlicher Erwachsener aus der Erwachsenenwelt. Nie sagt einer der anderen Erwachsenen über ihn, dass mit ihm irgend etwas nicht stimmen würde, nie macht jemand eine seltsame Bemerkung über ihn. Im Gegenteil ist er, das spüren wir, sehr angesehen. Der Mann im Erdgeschoß steht jeden Nachmittag am Fenster und sieht uns beim Spielen zu. Uns fällt er gar nicht mehr auf, so sehr gehört er schon zu diesem Haus dazu wie die Eingangstür oder die Kellerfenster. Die meiste Zeit steht er einfach da und beobachtet uns und sagt auch nichts, so dass wir ihn an jedem Nachmittag, kurz nachdem wir zu spielen begonnen haben, schon vergessen haben. Aber in genau dem Augenblick, in dem es ihn nicht mehr zu geben scheint, öffnet er plötzlich das Fenster, beugt sich weit hinaus, streckt uns seinen Arm entgegen und macht mit Daumen und Zeigefinger eine Geste, die bedeutet: So klein! Und dabei schreit er: So ein kleiner Hitler gehört her! Und dann, lauter, noch einmal: So ein kleiner Hitler gehört her!
Augenblicklich steigen wir von den Rädern ab, lassen den Ball, wo er ist, die anderen aus dem Nachbarhof fahren so schnell sie können auf die Straße hinaus. Wir stellen unsere Räder in den Fahrradständer und tun so, als wäre uns das Spiel ohnehin gerade langweilig geworden, wir tun so, als hätten wir den Satz gar nicht gehört. Der Mann mit dem dicken, roten Gesicht schließt das Fenster wieder. Aber er verschwindet nicht, hinter dem geschlossenen Fenster können wir noch immer seine Gestalt erkennen. Niemals fällt uns ein, ihm eine Frage zu stellen. Dazu haben wir viel zu viel Angst, dazu wissen wir auch nicht, was für eine Frage genau wir ihm stellen sollten. Also fragen wir ihn nie, warum so ein kleiner Hitler hergehört, und warum ausgerechnet in dieser Größe und nicht größer, und wir fragen ihn auch nicht, was dieser kleine Hitler denn hier machen soll, was für Aufgaben denn dieser kleine Hitler hier übernehmen soll. Und wo wird dieser kleine Hitler überhaupt wohnen? Wo wird er arbeiten? Was wird er die ganze Zeit tun?
Ich bin zwölf und ich weiß, dass Adolf Hitler Zwölfjährige vergasen kann. Ja. Adolf Hitler kann alle Zwölfjährigen, die Fahrrad fahren, vergasen, und wahrscheinlich ist das gesetzlich erlaubt. Ich weiß nicht, wo das passiert, ich weiß nicht, ob das ständig passiert oder ob das nur einmal passiert ist, und ich weiß nicht, wie er es macht. Wir reden nicht über so etwas, oder wir reden darüber in einer Weise, als wüssten wir über alles Bescheid. Dabei ist alles von Nebel umhüllt und es ist unmöglich, Fragen zu stellen, die diesen Nebel vertreiben könnten.
Ich bin zwölf und ich weiß, dass Adolf Hitler schon lange tot ist, aber ich bin mir nicht hundertprozentig sicher. Einmal heißt es, er sei in Villach. Er sei nach Villach gekommen. Jemand in der Klasse erzählt es, der hat es gehört. Ich glaube es nicht, aber ich kann ihm nicht widersprechen, denn ich weiß es einfach nicht.
Ein anderes Mal sagt jemand, Adolf Hitler sei am Faaker See. Das könnte stimmen. Jeden Sommer kommen tausende deutscher und holländischer Touristen an den Faaker See. Die Nachhut des Wirtschaftswunders, die den Wohlstand auch nach Kärnten bringt. Kann sein, dass Adolf Hitler auch dabei ist, kann sein, dass er jetzt jeden Tag im Faaker See schwimmen geht, der blaugrün glitzernde Faaker See im Schatten der Karawanken ist wunderschön.
Mein Geographieprofessor im Gymnasium in der Peraustraße besitzt ein Hotel am Faaker See, aber ich getraue mich nicht, ihn zu fragen. Im Gymnasium stellen wir überhaupt nur Fragen, von denen wir intuitiv spüren, dass sie angemessen sind. Zu fragen, ob Adolf Hitler in seinem Hotel am Faaker See wohnt, wäre nicht angemessen gewesen. Dieser Geographieprofessor hat zahlreiche Narben im Gesicht, die von einem schweren Autounfall stammen müssen, das nehmen wir jedenfalls an, aber wir irren uns, denn später werden wir erfahren, dass man solche Narben Schmisse nennt. Wenn dieser Geographieprofessor zu Beginn einer Stunde die Klasse betritt, schleudert er schon weitem seine Tasche auf den Stuhl und schlägt dann mit der flachen Hand auf den Tisch, um uns, den zwölfjährigen Arschlöchern, klarzumachen, dass seine Weltanschauung unverrückbar ist. Wenn er besonders gut gelaunt ist, dann geht er auf einen von uns zu, schaut ihm lange in die Augen und sagt dann, Dir beiße ich noch einmal den Kopf ab. Danach beginnt der Geographieunterricht.
Ich kann mir nicht erklären, was Adolf Hitler in Villach will. Ich stelle mir vor, wie er den Villacher Hauptplatz hinauf und wieder hinunter läuft, wie er durch die Lederergasse und die Widmanngasse geht, wie er am Abend im Toastenwirt und im Hofwirt sitzt. Ich stelle mir vor, wie er auf der Draubrücke steht und zum Mittagskogel hinaufsieht. Aber was will er hier? Wir sind in den Siebziger Jahren. Neunzehnhundertsiebenundsiebzig. In der Popmusik explodieren die Farben. Aber vielleicht denkt Adolf Hitler, dass Kärnten ja nur an der Oberfläche bunter geworden ist und im Herzen noch immer einfärbig ist.
Viel später werde ich erfahren, dass Adolf Hitler tatsächlich noch nicht tot ist. Adolf Hitler ist nicht tot und er fährt überall hin, wohin man ihn ruft, in das kleinste Tal und in den Lichtkegel der schwächsten Glühbirne.
Einmal bin ich am Nachmittag allein im Hof und warte auf Gerald. Ich trete den Ball gegen das eiserne Garagentor, aus Übermut, so fest ich kann, so laut, dass man es überall hört. Sofort öffnet der Mann im Erdgeschoß das Fenster, beugt sich heraus, streckt mir den Arm entgegen und macht mit Daumen und Zeigefinger die Geste. Ohne dabei ein Wort zu sagen. Er hält mir nur dieses Maß hin. Er zeigt mir das Hitler-Maß. Schau dir dieses Maß gut an. Und dann, bevor er das Fenster wieder schließt, winkt er mich zu sich. Ich gehe hin und stelle mich unter das Fenster. Ich habe eine Jeans und einen grünen Pullover an. Er grinst und sagt, Grün und blau, das ist die Tschuschensau. Merk dir das.