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Weißenhofsiedlung

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

So wohnt man also in einem Haus, an dem nichts verändert werden darf. Kein Fenster, keine Tür. Auch der Anstrich nicht. Ein Nagel darf eingeschlagen werden, innen an der Wand, um ein Bild daran aufzuhängen. Über das Sofa im Wohnzimmer sollte ein Bild. Aber mit diesem Sofa zum Beispiel fängt schon alles an. Das Sofa von wo, von wem? Ein IKEA-Sofa kann hier nicht herein. Da nützt auch der nordisch kühle Name des Sofas nichts. Die anderen Diskonter kommen auch nicht in Frage. Und dann der Tisch und die Stühle und die Lampen, die können ja nicht vom Wühltisch kommen. Wer in einem der Häuser der Weißenhofsiedlung wohnt, kann am Abend nicht einfach mit einer Tüte von Aldi Süd nach Hause kommen. Oder ein Super-Sonderangebot von Lidl über seine Schwelle tragen. Für Lidl hat sich die Moderne die ganze Mühe nicht gemacht. Das macht das Leben nicht billiger. Das geforderte Bewusstsein fordert ein hohes Einkommen. Wer sich sein Bewusstsein nicht leisten kann, muss eben zu einem Leasing-Vertrag greifen. Welches Haus passt zu mir, muss sich jeder am Sonntag Nachmittag fragen, und passe ich überhaupt zu meinem Haus? Passe ich überhaupt zu diesem Mies-van-der-Rohe-Haus? Häuser werden nicht für Menschen entworfen, sondern für Bildungsgrade.
Vor einem Gartenzaun haben zwei italienische Studenten ihr Stativ postiert. Zwei Paparazzi der Architektur. Sie werden fotografieren, was sie ohnehin schon auswendig kennen. Als sich eine Tür öffnet und eine Frau heraus in den Garten tritt, sind sie irritiert. Mit so viel Lebendigkeit haben sie nicht gerechnet. Für das schöne Foto werden sie jetzt warten müssen. Die Frau im Garten macht alles richtig. Sie trägt Gott sei Dank keinen Jogginganzug. Sie hat Gott sei Dank keine blonden Strähnchen im Haar. Und dick ist sie auch nicht. Die zwei Architekturstudenten sind beruhigt. Trotzdem machen sie ihr Foto erst, als die Frau wieder im Haus verschwunden ist.