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Freiheit durch Hochseilartisten

Boris Popovic in „Freiheit durch Hochseilartisten“ im Rahmen des Projekts „Die Sicherheit der Sicherheit“ im Theater Nestroyhof Hamakom, Wien 2015 (Foto: Anna Stöcher)

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

Monolog

Ich habe mich für den Beruf des Hochseilartisten entschieden, weil man mit diesem Beruf sehr viel Geld verdienen und, wenn man über das entsprechende Charisma und ein gutes Management verfügt, auch ein Star werden kann. Ich habe mich für diesen Beruf entschieden, obwohl ich nicht aus einer Artistenfamilie stamme, nicht so wie mein Vorbild Nik Wallenda, dessen Vorfahren bereits seit sieben Generationen Drahtseilartisten sind. Ich habe mich gegen den Widerstand meiner Mutter und meines Vaters dafür entschieden. Meine Mutter ist der Überzeugung, es wäre kein sicherer Beruf. Dabei ist er das. Als Hochseilartist braucht man weder Umstrukturierungsmaßnahmen noch betriebsbedingte Kündigungen zu fürchten. Ich weiß, dass meine Mutter damit meint, es wäre ein gefährlicher Beruf. Aber auch das stimmt nicht. Für keine andere Berufsgruppe existieren so viele Sicherheitsvorschriften. Meiner Meinung nach sind es viel zu viele. Die Zuseher bezahlen nicht dafür, dass ich die Sicherheitsvorschriften beachte, sondern dafür, dass ich mein Leben riskiere. Meine Mutter ist ein ängstlicher Mensch und versteht nicht, wie man in dieser verwirrenden und dunklen Gegenwart und angesichts der ungewissen Weltlage absichtlich sein Leben aufs Spiel setzen kann. Sie erwartet, dass ich etwas tue, was die Welt weniger verwirrend und dunkel macht. Ihr wäre es lieber, ich würde Polizist werden oder mich für irgendeinen anderen Beruf entscheiden, in dem man eine Uniform tragen muss. Eine Uniform ist ein Symbol für Sicherheit und Ordnung und Helligkeit. Meine Mutter fühlt sich vom IS, von den Taliban, vom Anstieg des Meeresspiegels, von der Abholzung der Regenwälder, von der Überwachung durch die NSA, vom Machtstreben Russlands, von den Kreditkartenbetrügern im Internet und von den Taschendieben im Bus bedroht. Ich behaupte nicht, dass diese Bedrohungen irreal oder Erfindungen meiner Mutter sind. Aber von mir erwartet sie, dass ich die Welt davon befreie. Die Welt wird nicht sicherer, indem mehr Menschen eine Uniform tragen. Das versuche ich meiner Mutter zu erklären. Ich könnte bei meinen Kunststücken auf dem Seil jederzeit eine Uniform tragen und trotzdem würde die Welt dadurch nicht sicherer. Meine Mutter ruft mich mehrmals täglich an, um mich von meinem Entschluss abzubringen. Wenn ich beim Training auf dem Seil ein Mobiltelefon bei mir hätte, würde sie mich auch da anrufen. Sie sagt ständig, es sei kein sicherer Beruf. Es sei einfach kein sicherer Beruf. Ich kann es nicht mehr hören. Ich weiß, dass sie, wenn sie mir zusieht, viele Ängste aussteht. Wenn ich oben über das Seil balanciere, spüre ich sie. Ich spüre auch die Ängste aller anderen, die unten stehen. Ich spüre, wie sich die Menschen vor den Viren im Netz und den Flüchtlingen an den Grenzen und den Terroristen in den Flugzeugen fürchten. Und ich spüre, wie sie diese umherirrenden Ängste auf mich übertragen. Ich weiß aber auch, dass ich dazu da bin, dass man diese Ängste auf mich übertragen kann. Das ist meine Funktion. Ich weiß, dass man nicht kommt, um zuzusehen, wie geschickt ich über ein Seil in einhundertzehn Metern Höhe gehen oder dort einen Rückwärtssalto machen und mir danach ein Spiegelei braten kann, sondern man kommt, weil ich jederzeit hinunterstürzen könnte. Mit diesem Sturz, das ist die Hoffnung dabei, stürzen auch die eigenen Ängste zu Boden und verschwinden für immer. So lange ein anderer sich in Gefahr befindet, kann man zur selben Zeit nicht selbst in Gefahr sein. Das ist die Freiheit von der Gefahr. Natürlich habe ich nicht die Absicht, jemals hinunterzustürzen. Ich verstehe, dass sich meine Mutter sorgt, dass das einmal passieren könnte. Sie sagt, für den Fall, dass ich stürze, wird niemand mich mit den Händen begraben, weil ich aus der Gefahr meinen Beruf gemacht habe. So wie das bei Nietzsche steht. Wer liest schon noch Nietzsche und weiß, dass man tote Hochseilartisten mit den Händen begraben muss. Ich bestehe auch nicht darauf, von irgendjemandem auf diese Weise begraben zu werden. Ich möchte gar nicht begraben werden, zumindest noch sehr lange nicht. Man soll mich begraben, wenn ich sehr alt und ein berühmter Hochseilartist geworden bin. Bis dahin will ich Spaß haben und viel Geld verdienen. Ich möchte einen gelben Lamborghini Huracán und einen Meerwasser-Swimmingpool. Ich möchte ein Leben in Luxus führen. So wie sich das alle aus meiner Generation wünschen. Ich kann meiner Mutter einfach nicht den Gefallen tun, einen anderen Beruf zu ergreifen.