Bauen Sie in diesem Bergwerk die unendlichen Weiten ab
© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor
Ein Weg durch das Werk von Hans Schabus
Plötzlich starren wir in ein dunkles Loch. Eben sind wir auf der Währingerstraße noch in der Sonne gesessen, jetzt müssen wir in dieses Loch hinuntersteigen. Das ist der Einstieg. Das ist der Einstieg ins Werk. Das ist der Einstieg in den Text. Wer geht vor? Hans Schabus hat das Loch vor ein paar Jahren gegraben. Aus dem Loch im Boden seines Ateliers wurde der „Schacht von Babel“. Das Negativ zum Turm. So wie sich der Turm in die Höhe schraubt, so bohrt sich der Schacht in die Erde. Der Turm wurde gebaut, um den Himmel zu berühren, der Schacht wird also bis zur Hölle reichen. Eine hölzerne Leiter führt durch den Schacht. Diese Leiter müssen wir hinab. Sprosse um Sprosse. Ist ja bloß ein Schacht, ist ja bloß ganz normale Dunkelheit. Wir müssen da hinunter, sagen wir, als wir hinuntersteigen, und wiederholen dabei, was unser Therapeut jedes Mal sagt. In Horrorfilmen sagen es die Kinder an der Kellertür. Taucher sagen es. Was immer da unten ist, wir müssen nachsehen, was es ist. Uns bleibt nichts anderes übrig. Wir müssen da hinunter, um etwas herauszufinden. Der Schacht ist eng, nicht einmal ein mal ein Meter breit, Erde rieselt herab. Da und dort liegt ein größerer Stein, manchmal ein Rohr aus Eisen, vergessene Leitungen. Sprosse um Sprosse steigen wir in dieses Unterbewusstsein hinab. Kalt ist es hier. Eine Zeit lang wird es noch kälter werden. Still ist es. Mein Tag bis jetzt war nicht so still. Die Einkaufszentren sind nicht so still und auch nicht die Erlebniswelten am Wochenende. Und so dunkel ist es auch fast nirgendwo mehr. Ein bisschen mehr Taschenlampenlicht wäre nicht schlecht. Zuhause habe ich eine alte grüne Taschenlampe, sie ist rechteckig mit einer rechteckigen Batterie, die hätte ich mitnehmen sollen, die hätte in meine Hosentasche gepasst und die hätte mir jetzt geholfen. Aber was will ich denn hier sehen? In einem Schacht gibt es nicht viel zu sehen. Nie können wir den Gipfel und die Aussicht vom Gipfel erwarten und wollen schon auf dem Weg alles sehen und alles gesehen haben. Oder wir hätten gern eine Abkürzung und fragen auch dauernd nach Abkürzungen. Dieser Abstieg aber kann nicht abgekürzt werden. Wir befürchten schon, dass der Schacht wirklich niemals endet, aber dann haben wir mit einem Mal wieder Boden unter den Füßen. Jetzt geht es horizontal weiter. Der Stollen ist niedrig, wir müssen uns bücken, müssen kriechen. Wir müssen uns auf allen Vieren vorwärts bewegen. Die Erde ist feucht. Meine Hände und Knie werden schmutzig von der Erde sein. Ich werde meine Hose wechseln müssen später. Jetzt sind wir drinnen im Werk. Wir haben vergessen, eine Karte mitzunehmen. Im Atelier lag eine Karte auf dem Boden, der Plan eines Bergwerks, die Namen der Stollen standen darauf, polnische und deutsche und italienische Städtenamen, die Namen von Königinnen. Warum habe ich die Karte nicht mitgenommen? Jetzt werden wir uns selbst eine Karte zeichnen müssen, an Ort und Stelle. Wir müssen eine Karte zeichnen, während wir längst dabei sind uns zu verirren. Am liebsten würden wir schon jetzt um Hilfe rufen. Ich habe ein Bedürfnis nach Hilfe zu rufen, aber das ist nicht das Café auf der Währingerstraße, wo ich nach dem Kellner rufen kann. Auf dem Boden liegen Briefmarken. Ich hebe die Marken auf. Wie sollen wir uns an Kirchen und Pferden und Blumen und österreichischen Burgen orientieren? Die Briefe zu den Marken fehlen natürlich. Ich müsste die Marken in irgendeine Ordnung bringen, Briefmarken verlangen danach, geordnet zu werden. Briefmarken und Ordnungssystem gehören zusammen. Ich stecke die Marken ein, ich sammle keine Briefmarken, kenne mich dabei überhaupt nicht aus, ich habe mir immer nur die Motive angesehen, aber jetzt habe ich etwas zum Tauschen. Wir müssen weiter. Weiter durch den niedrigen Stollen. Weiter durch das dämmrige Licht. Da passiert es auch schon. In dem Stollen kommt uns ein Astronaut entgegen. In seinem dicken Astronautenanzug quetscht er sich durch den engen Stollen, den Helm auf dem Kopf, durch das spiegelnde Visier ist kein Gesicht zu erkennen. Auf seinem Anzug befinden sich zahlreiche Abzeichen und Flaggen, er scheint für viele Nationen unterwegs zu sein. Wahrscheinlich ist er sogar im Auftrag der Menschheit unterwegs. Immer mehr Menschen sind ja im Auftrag der gesamten Menschheit unterwegs. Vielleicht absolviert er auch nur ein besonderes Trainingsprogramm. Oder vertreibt sich die Zeit zwischen zwei Missionen. Bis zur nächsten Mission kann es allerdings lange dauern. Missionen sind gerade nicht in Mode. Wo sind eigentlich die unendlichen Weiten, die uns versprochen worden sind? Wer holt sie für uns? Wo sind die einhundert bewohnten Welten? Da ist er auch schon wieder an uns vorbei. Winkt uns noch einmal zu wie er gewöhnlich in die Kameras winkt, um alle zu grüßen, die auf der Erde zurückgeblieben sind. Seine Bewegungen sind langsam. Die Schwerelosigkeit hat er immer bei sich. Stolz sieht er aus. Die Berufsbezeichnung Astronaut hat Hans Schabus einmal in großen Buchstaben aus Neonröhren auf das Dach der Wiener Secession geschrieben. Auf dem Heimweg in der Nacht konnten wir lesen, was aus uns auch hätte werden können. Beim Einstieg haben wir versprochen, nicht aufzugeben. Also müssen wir weiter. Mit einem Mal wird der Stollen breiter und höher, wir können aufstehen, wir können wieder aufrecht gehen. Ich fühle mich besser, die Knie haben mir schon weh getan. In dem Augenblick erscheint vor uns ein Segelboot, ein kleines Boot aus braunem Holz, das Segel leuchtet weiß. Langsam treibt es auf uns zu. Ich bin weder Optimist noch Pessimist, ich bin auf meinem Weg, sagt das Boot, ich tue, was ich tun muss, ich kenne mein Ziel. Was kümmert mich, dass es hier keine Strömung gibt, was kümmert mich, dass es hier keinen Wind gibt, das brauche ich alles nicht. In den letzten Jahren habe ich viele Menschen und Güter transportiert, aber das mache ich jetzt nicht mehr, das ist vorbei. Aber zu verschenken habe ich auch nichts, wenn ihr das erwartet habt. Mehr sagt das Segelboot nicht und nimmt auch keine weitere Notiz von uns. Sondern drängt uns an die Wand, beansprucht Platz, treibt an uns vorbei. Und ist bald in der Dunkelheit verschwunden. Wieder ist es so still wie davor. Wir müssen weiter. Pfeile an den Wänden wären nicht schlecht. Piktogramme. Hinweise für uns. Wir sind so an Orientierung gewöhnt. Dabei macht Orientierung dick. Wir müssen weiter. Hinunter zum Beispiel über eine hölzerne, gewundene Treppe. Hans Schabus ist diese Treppe tausende Mal hinauf und hinunter gerannt, sie hat in seinem Elternhaus zwei Stockwerke verbunden. Später hat er sie hier eingebaut. Damit wir über die Treppe hinauf und hinunter rennen. Damit wir unsere Muskeln trainieren. Damit wir in dieser Disziplin besser werden. Damit dieses Bergwerk oder dieser Text oder dieses Unterbewusstsein für uns ein Elternhaus wird. Obwohl ein Elternhaus auf diese Weise natürlich nicht zu haben ist. Dieses Bergwerk ist eine andere Form von Elternhaus und ich muss herausfinden, welche Form. Wir müssen herausfinden, was diese Treppe hier unten mit uns macht, wir müssen in Erfahrung bringen, was das Hinaufrennen und Hinunterrennen mit uns macht. Für jede Veränderung übrigens bin ich dankbar. Eine kleine Veränderung reicht mir schon. Aus diesem Grund sind wir ja auch da. Diese Treppe muss mich verändern. Das Fernsehprogramm zwischen acht und elf Uhr abends verändert mich nicht. Im nächsten Stollen stehen wir vor einem Segelflugzeug, dessen Spitze nach unten zeigt. Als hätte es die fünfzig Meter Erde bis hierher im Sturzflug durchstoßen und wäre erst in diesem Stockwerk zum Stillstand gekommen. Die Enden der Flügel durchbrechen die Wände des Stollens, ragen in den nächsten Raum. Weiß glänzt der Rumpf in dem trüben Licht, ein Schriftzug verrät seinen Namen: Pirat. Keine Sorge, sagt das Flugzeug, mit mir ist alles in Ordnung. Ich habe mir nichts getan. Mein Rumpf und meine Flügel sind okay. Ich bin noch immer vollkommen flugtauglich. Normalerweise fliege ich über Almen und Gletscher und lande auf grünen Schweizer Wiesen. Aber ich wollte einmal sehen, wie es hier unten ist. Ich war neugierig. Ich kenne das Gefühl von Unendlichkeit. Ich kenne den Blick von oben. Aber auch hier unten muss es etwas Besonderes geben. Und das will ich kennen lernen. Es muss doch auch eine Übersicht von unten geben. Diese Übersicht suche ich. Beim Fliegen habe ich Schillers Wilhelm Tell gelesen, sagt das Flugzeug und zeigt ein Reclamheft. Hier unten habe ich viel Zeit. Ich muss mir überlegen, was ich als nächstes lese. Die Enden der Flügel stecken fest, dieses Segelflugzeug wird nicht mehr zu befreien sein. Dieses Flugzeug wird nicht mehr fliegen. Ich müsste ihm helfen. Ich müsste es zu befreien versuchen. Aber das wird nicht gelingen. Es muss sich auf eine andere Weise über die Almen und Gletscher erheben, es muss sich auf eine neue Weise die Schweizer Alpen von oben ansehen. Du wirst eine Möglichkeit finden. Ich muss weiter, ich habe noch lange nicht alles gesehen. Noch viele andere Fortbewegungsmittel sind in diesen Stollen unterwegs. Zum Beispiel ein alter Renault Kastenwagen, der irgendwann in der Mitte auseinander geschnitten und dessen hinterer Teil zu einem Anhänger umgebaut wurde. Und wir begegnen einem Zug. Oben im Atelier fährt hoch über dem Kopf eine Modelleisenbahn im Kreis. Aber hier unten kommt uns ein richtiger Zug entgegen. Eine mächtige, rote Lokomotive zieht die Waggons durch den Semmering oder den Arlberg oder das unterirdische Wien. Aus dem Weg, brüllt die Lokomotive, ich habe es eilig, ich habe ein Rendezvous. Was für ein Rendezvous? Mit wem? Das darf ich nicht sagen. Aber von diesem Rendezvous hängt mein Schicksal ab. Ich darf mich nicht um einen Millimeter irren und darf nicht um eine Sekunde zu spät kommen, sonst habe ich das Rendezvous versäumt. Das darf auf keinen Fall passieren, denn niemand kann sagen, wann es wieder eine Gelegenheit für ein Rendezvous geben wird. Wenn ich nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin, werde ich wieder für drei Jahre allein sein. Und ich will nicht mehr allein sein. Und damit verschwindet der Zug in der Dunkelheit des Tunnels. Dieser Zug und der alte Renault und das Segelboot haben ein Rendezvous und wir haben natürlich keines. Jetzt erst fällt es uns wirklich auf. Wir haben kein Rendezvous, wir haben mit niemandem etwas ausgemacht. Nirgendwo wartet jemand auf uns. Das hätten wir uns nicht gedacht. Dass wir hier unten so eine schlechte Figur abgeben. Wir können nicht mit einem Rendezvous prahlen. Ich möchte auch erzählen können, dass jemand auf mich wartet und dass ich mich auf keinen Fall verspäten darf. Es nützt nichts. Wir haben kein Rendezvous, dabei hätten wir jemanden, der sagt, ich habe so lange auf dich gewartet, ich bin froh, dass du gekommen bist, dringend nötig. Uns bleibt nur, uns nach etwas anderem umzusehen. Irgendwo in diesem Bergwerk soll es Luken geben. Klappen im Erdreich, die sich öffnen lassen und dann einen großartigen Ausblick bieten. Zum Beispiel auf Venedig und das Meer und einen wolkenlosen Himmel im August. So eine Luke müssen wir finden. Ich habe schon lange nicht mehr an Venedig gedacht, war lange nicht mehr dort, jetzt würde ich die Stadt gern sehen. Ich renne eine Treppe hinauf, eine Treppe hinunter, ich taste die Wände ab. Ganz unten ist eine Öffnung. Eine kleine Öffnung, durch die man auf eine unendliche Weite blickt.