Dieses Unternehmen garantiert Selbstverwirklichung
© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor
Als sie in dem Unternehmen zu arbeiten begann, da war sie so glücklich, dass sie in diesem Unternehmen zu arbeiten beginnen durfte, dass sie gar nicht merkte, dass sie arbeitete. Es arbeitete nur so aus ihr heraus. Sie arbeitete an Projekten und einem Projekt folgte das nächste und bei der Arbeit am neuen Projekt hatte sie das vorangegangene schon vergessen. Sie entwickelte Projekte und betreute Projekte und führte Projekte zu einem guten Ende. Sie verkaufte Projekte und hielt Ausschau nach neuen. Sie steckte dauernd in einem Projekt.
Das Unternehmen schickte sie zu Weiterbildungskursen und Trainingsprogrammen, zu Wochenendseminaren und Abendvorträgen, das Unternehmen investierte in sie. Das Unternehmen schlug ihr vor, zusätzliche Qualifikationen zu erwerben, diese speziellen Zusatzqualifikationen, von denen ja dauernd die Rede ist, das Unternehmen bot ihr an, ihre Fähigkeiten zu vermehren. Und das Unternehmen legte ihr nahe, ihre Defizite zu beseitigen. Warum hätte sie ausschlagen sollen, ihre Defizite zu beseitigen? Defizite sind hässlich und mit ihren vielen Defiziten wäre es nicht lange gut gegangen. Sie spürte ihre Defizite auf und beseitigte sie. Das Unternehmen sah es gern, wenn sie jeden Tag noch motivierter an ihre Arbeit ging und noch mehr Leistungsbereitschaft aufbrachte, also ging sie jeden Tag noch motivierter an ihre Arbeit und entwickelte noch mehr Leistungsbereitschaft. Bald fing sie an, unternehmerisch zu denken, so wie ihr Unternehmen unternehmerisch dachte, und sie fing an, unternehmerisch zu handeln, so wie ihr Unternehmen unternehmerisch handelte. Sie definierte sich als Unternehmerin im Unternehmen, genau das wollte ihr Unternehmen sehen, so wollte ihr Unternehmen, dass sie sich fühlte. Sie fühlte sich als Unternehmerin im Unternehmen und sie fühlte sich gut dabei.
Das Unternehmen bat sie darum, das große Gefäß von zuhause mitzubringen, also kam sie jeden Tag mit dem großen Gefäß ins Büro. Sie trug das Gefäß mit beiden Händen, sie trug es durch die Eingangshalle, sie zwängte sich damit in den Lift, sie schleppte das Gefäß in den vierten Stock. Sie hatte das Gefäß immer bei sich, keine Minute verbrachte sie mehr ohne es. Wenn sie in ein Meeting ging, dann hatte sie das Gefäß dabei, wenn sie zu einem Kunden fuhr, dann nahm sie das Gefäß jedes Mal mit. Wenn sie an ihrem Schreibtisch saß, dann stand das große Gefäß gleich neben ihr, an die Wand gelehnt, größer als sie. Das Unternehmen bat sie darum, so oft wie möglich aus dem Gefäß zu schöpfen. Sie nahm einen Löffel und stieg damit auf einen Stuhl, sie streckte sich und schöpfte mit dem Löffel behutsam aus dem großen Gefäß. Einmal am Tag, zwei Mal am Tag, mehrmals am Tag. Abends schleppte sie das Gefäß wieder nach Hause und stellte es in der Nacht neben ihr Bett. Am nächsten Morgen nahm sie es wieder mit ins Büro, um den ganzen Tag daraus zu schöpfen. So sollte es endlos weitergehen. So wird es endlos weitergehen, sagte das Unternehmen zu ihr.
Jetzt steht die sechsunddreißigjährige Frau in ihrem Badezimmer, sie hat ein Bad genommen, sich die Haare gewaschen, sie hat ihren Körper gepflegt. Das große Gefäß lehnt neben ihr an der Wand. Die sechsunddreißigjährige Frau starrt in den Spiegel. Vor sechs Jahren, als sie beim Bewerbungsgespräch genommen wurde, hatte der Human Resources Manager zu ihr gesagt hatte, dass es das Funkeln in ihren Augen gewesen sei, das den Ausschlag gegeben habe. Dieses Funkeln hätten die wenigsten, dieses Funkeln finde man sehr selten, dieses Funkeln sei das Erkennungszeichen. Sie starrt in den Spiegel und sucht jetzt nach diesem Funkeln. Sie sucht in ihren Augen nach dem Funkeln und findet es nicht. Das Funkeln ist nicht mehr da. Dabei hatte ihr der Human Resources Manager versprochen, das Funkeln in ihren Augen zu verdoppeln. Wir verdoppeln das Funkeln, hatte er gesagt, es dauert eine Zeit, das geht nicht von heute auf morgen. Wir vervielfachen das Funkeln, hatte der Human Resources Manager in seinem großen und hellen Büro mit dem orangefarbenen Ledersofa zu ihr gesagt, das versprechen wir Ihnen, vertrauen Sie uns. Und sie hatte ihm vertraut, warum hätte sie ihm auch nicht vertrauen sollen und warum hätte sie das ablehnen sollen, warum hätte sie ablehnen sollen, wenn aus wenig mehr gemacht wird, aus wenig muss ja auch immer mehr gemacht werden, wenig darf nicht wenig bleiben.
Die sechsunddreißigjährige Frau steht vor dem Spiegel in ihrem Badezimmer und sucht nach all dem, was ihr versprochen worden ist. Sie hat keine Lust mehr, noch länger zu warten. In den Meetings und bei den Seminaren, da hat ihr das Unternehmen dauernd etwas versprochen. Wo ist das jetzt? Wo ist das jetzt? Sie untersucht ihren Körper. In diesem Körper muss sich etwas verändert haben. Irgendwas muss jetzt in diesem Körper sein, das früher noch nicht dort gewesen ist. Unter der Haut, in diesem Körper drin, muss das verborgen sein, was ihr die ganze Zeit versprochen worden ist. In ihrem Körper muss sich das befinden. Wo soll es denn sonst sein? Da ist sie sich ganz sicher. In ihrem Körper muss die Belohnung sein. Diese Belohnung, von der das Unternehmen immer so gern geredet hat, diese Belohnung, von der der Human Resources Manager so begeistert gesprochen hat. Sie hat nichts falsch gemacht, sie hat keine Fehler gemacht, sie wüsste nicht, welchen. Nun will sie ihre Belohnung. Sie steht vor dem Spiegel und betrachtet ihren Körper und wartet darauf, dass der Körper sich öffnet und man im Inneren die Belohnung erkennt. So klar, dass man mit der Hand danach greifen kann. In diesem Körper befindet sich die Belohnung. In dieser Frau befindet sich die Belohnung. Das Unternehmen und der Human Resources Manager haben von ihr verlangt, dass sie sich bei ihrer Arbeit selbst verwirklicht, und sie hat sich alle Mühe gegeben. Ihre Mühe hat dem Unternehmen Gewinn gebracht. Das Unternehmen und der Human Resources Manager haben ihr versprochen, dass sie sich bei dieser Arbeit ganz selbstverständlich auch selbstverwirklichen wird.
Sie ist müde. Sie würde jetzt gern noch einmal aus dem großen Gefäß neben ihr schöpfen, aber das große Gefäß ist leer.