Gier nach Gefühlen
© S. Fischer Verlag, Aufführungsrechte S. Fischer Verlag Theater & Medien
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Textausschnitt
1
TOM Ich habe einen Auftrag erhalten. Es ist der für mich bisher größte und wichtigste Auftrag. Ich hätte mir nie gedacht, jemals mit einem solchen Auftrag betraut zu werden. Von so einem Auftrag darf man nicht einmal träumen. Aber es war kein Zufall, dass ich ausgewählt worden bin. Ich habe diesen Auftrag erhalten, weil ich ein wichtiger Architekt bin. Einem durchschnittlichen Architekten hätte man diesen Auftrag nicht gegeben. Es ist eine Anerkennung und eine Auszeichnung meiner Arbeit. Wenn man so einen Auftrag erhalten hat, muss man das feiern. So etwas muss ganz groß gefeiert werden. Aber ich bin im Augenblick nicht in der Stimmung dazu. Ich bin nicht in der Stimmung zu feiern, weil ich die ganze Zeit über diesen Auftrag nachdenke. Ich soll eine Bank entwerfen, die nicht aussieht wie eine Bank. Es muss ein Bankgebäude sein, bei dessen Anblick man auf keinen Fall an ein Bankgebäude denken darf. Es muss das absolute Gegenteil davon sein. Aber was ist das absolute Gegenteil? Die Auftraggeber erwarten von mir, dass ich schon in den nächsten Tagen einen Entwurf vorlege. Wahrscheinlich erwarten sie sich ein Meisterwerk. Die Auftraggeber erwarten sich ja immer Meisterwerke. Ich muss mich bemühen. Ich muss eine gute Lösung finden. Ich brauche eine außergewöhnliche Idee. Wenn ich die richtige Lösung gefunden habe, wird die Feier nachgeholt. Das verspreche ich.
2
TOM Ich habe schon mit der Arbeit an dem Projekt begonnen. Ich denke den ganzen Tag darüber nach. Ich habe einen Entwurf gezeichnet. Aber ich bin damit nicht zufrieden.
JUDITH Warum nicht?
TOM Ich bin damit einfach nicht zufrieden.
JUDITH Es ist ganz normal, dass man mit dem ersten Entwurf nicht zufrieden ist.
TOM Er ist mir nicht gelungen.
JUDITH Dann musst du einen neuen machen.
TOM Ich soll eine Bank entwerfen, die nicht aussieht wie eine Bank. Ich soll ein Gebäude entwerfen, bei dem man auf keinen Fall an ein Bankgebäude denkt.
JUDITH Warum darf es nicht aussehen wie ein Bankgebäude?
TOM Niemand kann im Moment den Anblick einer Bank ertragen. Die Bank muss wie das Gegenteil einer Bank aussehen.
JUDITH Dann entwirf das Gegenteil einer Bank.
TOM Es ist nicht so einfach, das Gegenteil einer Bank zu entwerfen.
JUDITH Warum nicht?
TOM Warum nicht?
JUDITH So einen Auftrag erhält man nicht jeden Tag.
TOM Das weiß ich.
JUDITH Du musst aufpassen, dass du den Auftrag nicht wieder verlierst.
TOM Warum sollte ich das?
JUDITH Wenn du keine gute Lösung findest, wirst du ihn wieder verlieren.
TOM Bis jetzt habe ich noch immer eine gute Lösung gefunden.
JUDITH Vergiss nicht, dass du Schulden hast.
TOM Alle Architekten haben Schulden. Ein Architekturbüro kostet viel Geld.
JUDITH Wenn du den Auftrag wieder verlierst, wirst du die Schulden nicht bezahlen können.
TOM Man verliert einen Auftrag nicht wieder. So etwas kommt nicht vor.
JUDITH Du hast sehr lange auf so einen Auftrag gewartet. Und jetzt, wo du ihn endlich hast, fällt dir keine gute Idee ein.
TOM Natürlich wird mir eine gute Idee einfallen.
JUDITH Du hast nicht sehr viel Zeit dafür.
TOM Das weiß ich. Sie drängen mich. Aber das ist ganz normal. Man wird jedes Mal gedrängt. Die Auftraggeber wollen immer alles sofort und auf der Stelle haben.
JUDITH Die Auftraggeber vergeben den Auftrag. Wer einen Auftrag vergibt, kann verlangen, was er will. Und in welcher kurzen Zeit er es will.
TOM Es ist unrealistisch in so einer kurzen Zeit.
JUDITH Du sagst die ganze Zeit, dass man sich Herausforderungen suchen muss. Jetzt stehst du vor einer Herausforderung und stürzt in eine Krise.
TOM Ich stürze nicht in eine Krise. Ich hasse das Wort Krise.
JUDITH Bis jetzt wurden erst sehr wenige deiner Projekte auch realisiert. Bist jetzt gab es die meisten Projekte nur auf dem Papier. Jetzt hast du die Gelegenheit, dass ein Entwurf auch realisiert wird.
TOM Darüber bin ich auch sehr froh.
JUDITH An deiner Stelle würde ich diese Chance nicht verspielen.
TOM Im Gegenteil. Das ist die Gelegenheit, auf die ich die ganze Zeit gewartet habe. Dieses Gebäude wird mich bekannt machen. Es wird mich berühmt machen.
JUDITH Zuerst brauchst du eine gute Idee.
TOM Ich habe tausend gute Ideen.
3
JUDITH Ich habe immer gewusst, dass Tom irgendwann einmal das, was er sich vorgenommen hat, auch erreichen wird. Das habe ich schon an dem Tag gewusst, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Ich war sofort von ihm beeindruckt. Er hat einen gut aussehenden schwarzen Anzug getragen, so einen Anzug wie ihn Architekten gewöhnlich tragen. Wahrscheinlich habe ich mich zuallererst in diesen schwarzen Anzug verliebt. Ich habe mir daraufhin ebenfalls schwarze Kleider gekauft, weil ich auch als Architektin mit einer großen Zukunft gelten wollte. Dabei habe ich nicht einmal Architektur studiert. Tom hat mich wegen dieser schwarzen Kleider für eine Architektin gehalten und als er erfahren hat, dass ich nicht einmal Architektur studiere, war er enttäuscht. Aber da hatte er sich schon in mich verliebt. Am meisten hat mich an ihm fasziniert, dass er mit seinen Häusern die Welt verändern wollte. Er war davon überzeugt, dass man mit guter Architektur die Welt verändern kann. Ich wollte auch die Welt verändern, aber ich wusste nicht, wie und womit. Tom hat mich dazu aufgefordert, zu schreiben zu beginnen. Er hat den Vorschlag gemacht, ich solle über Architektur und Bildende Kunst und Filme schreiben. Also habe ich zu schreiben begonnen. Aber als ich damit angefangen habe, hatte ich einen furchtbaren Stil. Tom hat mir erklärt, dass ich an meinem Stil arbeiten muss. Ich musste lernen, nüchtern und schnörkellos zu schreiben. Ich wollte kalte und streng komponierte Texte schreiben und damit die Welt verändern. Und Tom wollte sachliche und schmucklose Häuser entwerfen und damit die Welt verändern. Wir haben uns gegenseitig darin zu überbieten versucht, mit unseren Arbeiten die Welt zu verändern. Wir haben gedacht, dass man nur gute Häuser zu bauen und gute Texte zu schreiben braucht, dann verändert sich die Welt von ganz allein. Wir haben gedacht, das reicht. Während dieser Zeit waren wir ineinander sehr verliebt. Wir waren ein sehr schönes Liebespaar. Aber das ist schon sehr lange her.
4
TOM Seitdem ich den Auftrag erhalten habe und die ganze Zeit an diesem Projekt arbeite, gehst du jeden Abend aus und kommst erst sehr spät zurück. Du hast doch erzählt, dass du so viel Arbeit hast.
JUDITH Das stimmt. Ich müsste mehr als zehn Texte schreiben.
TOM Warum gehst du dann aus, statt deine Texte zu schreiben?
JUDITH Ich muss mich mit Daniel treffen.
TOM Mit welchem Daniel?
JUDITH Daniel ist Maler. Du kennst ihn nicht. Ich glaube auch nicht, dass du seine Bilder schon einmal gesehen hast. Daniel malt mit richtigen Farben auf einer richtigen Leinwand. Er besitzt keinen Computer. Kannst du dir vorstellen, dass es Menschen gibt, die keinen Computer besitzen?
TOM Schreibst du über seine Bilder?
JUDITH Jetzt noch nicht. Vielleicht irgendwann einmal.
TOM Warum triffst du dich dann so oft mit ihm?
JUDITH Warum treffen sich zwei Menschen? Zwei Menschen treffen sich, weil sie neugierig aufeinander sind. Zwei Menschen treffen sich, um ihren Horizont zu erweitern.
TOM Du triffst dich mit jemandem, der Daniel heißt, um mit ihm deinen Horizont zu erweitern?
JUDITH Ich treffe mich mit Daniel, um mein Leben zu erweitern. Das heißt, ich treffe mich mit Daniel, um mein Leben zu überprüfen.
TOM Was meinst du damit, du musst dein Leben überprüfen?
JUDITH Ich muss überprüfen, ob das Leben, das ich führe, auch das ist, das ich führen will. Und das ich immer führen wollte.
TOM Und das musst du mit Daniel tun?
JUDITH Du kennst Daniel nicht. Du kennst seine Bilder nicht. Er hat mich in einem Museum angesprochen, wo wir uns dieselbe Ausstellung angesehen haben. Er hat mir auf den Kopf zugesagt, dass mein Leben nicht in Ordnung ist.
TOM Warum sollte dein Leben nicht in Ordnung sein?
JUDITH Es ist nicht in Ordnung. Daniel hatte vollkommen Recht, als er das behauptet hat.
TOM Das hat er doch nur gesagt, um einen Vorwand zu haben, dich anzusprechen.
JUDITH Er hat mich in sein Atelier eingeladen. Und ich bin hingegangen, um mein Leben zu überprüfen.
TOM Man geht nicht in irgendein Atelier, um sein Leben zu überprüfen.
JUDITH Mein Leben ist schon lange nicht mehr in Ordnung. Daniel hat das sofort erkannt.
TOM Ich verstehe nicht, was du meinst.
JUDITH Ich habe immer gewusst, dass du es einmal schaffen wirst. Du wirst etwas aus dir machen. Und wenn ich mit dir zusammen bleibe, werde auch ich etwas aus mir machen. In dem Maß, in dem dir dein Leben gelingt, wird auch mir mein Leben gelingen. Ich habe immer gewusst, dass, wenn du großartige Häuser baust, ich großartige Texte schreiben werde. Ich habe immer gedacht, dass, wenn ich an deiner Seite bleibe, alles von selbst geschieht. So wie sich eine Pflanze bloß immer zur Sonne hin auszurichten braucht, um zu wachsen. Das reicht. Aber das denke ich jetzt nicht mehr. Das denke ich schon lange nicht mehr. Und Daniel hat es ausgesprochen.
TOM Das war doch bloß ein Trick, um dich kennenzulernen.
JUDITH In seinem Atelier habe ich dann seine Bilder gesehen. Weißt du, was er malt? Er malt Gefühle.
TOM Du triffst dich die ganze Zeit mit jemandem, der Gefühle malt?
JUDITH Ich kenne niemanden, der solche Bilder malt.
TOM Zum Glück kenne ich auch niemanden, der Gefühle malt.
JUDITH Ich kenne viele Maler. Das ist schließlich mein Beruf. Aber ich kenne niemanden, der solche Bilder malt. Sein Atelier ist so groß, dass er darin mit dem Fahrrad herumfahren kann. Auch seine Bilder sind riesig. Als ich das erste Mal vor diesen Bildern gestanden bin, habe ich erkannt, dass ich anhand dieser Bilder mein Leben überprüfen muss.
TOM Man kann nicht anhand von irgendwelchen Bildern sein Leben überprüfen.
JUDITH Doch. Genau dafür werden Bilder ja gemalt. Daniels Bilder fordern dich auf, dein Leben zu überprüfen.
TOM Bilder werden gemalt, damit später irgendjemand diese Bilder ästhetisch genießen kann.
JUDITH Bilder werden gemalt, um denjenigen, der sie betrachtet, zu verändern.
TOM Das stimmt nicht.
JUDITH Ich bin Kunstkritikerin. Ich weiß, dass das stimmt.
TOM Ich verstehe überhaupt nicht, dass du dein Leben überprüfen musst. Du hast doch ein wunderbares Leben.
JUDITH Du solltest dir die Bilder auch ansehen.
TOM Wozu?
JUDITH Vielleicht bringen sie dich auf eine Idee.
TOM Ich habe selbst genug Ideen. Ich brauche keine Ideen von einem Maler, der Gefühle malt.
5
DANIEL Judith hat vorgeschlagen, dass wir uns treffen. Sie hat mich gebeten, dir zu helfen. Deshalb bin ich da.
TOM Ich brauche niemanden, der mir hilft.
DANIEL Es sieht nicht gut aus für dich. Wenn du den Auftrag nicht ausführen kannst, wirst du dein Büro schließen müssen.
TOM Das werde ich niemals schließen. Schon als Kind habe ich mir nur gewünscht, einmal ein Architekturbüro zu haben. Das Architekturbüro ist mein Lebenstraum. Warum sollte ich das Büro schließen?
DANIEL Wegen der Schulden.
TOM Ich habe keine Schulden.
DANIEL Doch. Ich weiß sogar, wie hoch sie sind.
TOM Mit dem Auftragshonorar kann ich die Schulden begleichen.
DANIEL Dafür sieht es aber nicht gut aus. Du hast keine Idee für den Entwurf.
TOM Selbstverständlich habe ich eine Idee. Sogar mehrere. Ich muss mich nur noch für eine davon entscheiden.
DANIEL Judith hat mir ältere Entwürfe von dir gezeigt. Du musst deinen Stil ändern.
TOM Ich soll meinen Stil ändern? Das ist verrückt. Mein Stil ist alles, was ich habe.
DANIEL Ändere deinen Stil. Sonst wirst du den Auftrag wieder verlieren.
TOM Ich habe zwanzig Jahre dazu gebraucht, meinen Stil zu entwickeln. Ich habe sehr lange dafür gearbeitet, einen eigenen, unverwechselbaren Stil zu haben. Ich habe tausende von Entwürfen gemacht. Und wieder verworfen. Und damit wieder von vorn begonnen. Man muss immer wieder von Neuem beginnen. Niemals aufgeben. Das ist das Geheimnis. Nur so entwickelt man einen eigenen Stil.
DANIEL Das kann sein. Aber jetzt musst du deinen Stil ändern.
TOM Mit meinem Namen verbindet man einen ganz bestimmten Stil. Wenn man meinen Namen hört, entsteht in jedem sofort das Bild von einem bestimmten Stil. Mein Name ist identisch mit meinem Stil. Ich würde niemals meinen Stil ändern.
DANIEL Ich habe meinen Stil vor zwei Jahren geändert. Seitdem reißen mir die Sammler die Bilder aus der Hand. Sie kaufen sogar schon die Bilder, die ich noch gar nicht gemalt habe. Ich könnte in fünf Galerien gleichzeitig ausstellen. Ich habe dafür nur nicht genügend Bilder. In den nächsten Monaten muss ich die Bilder malen, die ich schon verkauft habe. Das war nicht immer so. Früher habe ich gegenständlich gemalt. Stühle, Tische, Autos, Autoreifen, eine Lilie, einen Schreibtischlampe, einen Kamm, einen Schlüsselbund. Alltagsgegenstände. Auf diesen Bildern bin ich sitzen geblieben. Ich habe weder eine Galerie noch Sammler gefunden. Ich habe das Format variiert und ich habe die Technik variiert. Ich habe die Bilder in Schwarz-Weiß und in Farbe gemalt. Einmal detailgetreuer und einmal abstrahierter. Nichts zu machen. Niemand wollte die Bilder haben. Erst als ich kaum mehr die Miete für mein Atelier bezahlen konnte und nicht einmal mehr genug Geld hatte, mir etwas zum Essen zu kaufen, erst dann habe ich erkannt, dass es nicht das richtige Jahrzehnt für Realismus ist. Realismus interessiert niemanden. Das will sich niemand an die Wand hängen und das will niemand im Museum sehen. Also habe ich begonnen, Gefühle zu malen. Seitdem reißen sie mir die Bilder aus der Hand.
TOM Das kann sein. Aber das hat nichts mit mir zu tun.
DANIEL Du musst genauso wie ich deinen Stil ändern.
TOM Ich bin für meinen Stil berühmt.
DANIEL Die Häuser, die du entwirfst, haben zu viel Realismus.
TOM Ich habe für meine Entwürfe schon zahlreiche Preise erhalten.
DANIEL Sie haben zu viel Realismus. Du musst den Realismus reduzieren.
TOM Offenbar weißt du nicht, wie viele Preise ich schon erhalten habe. Hat dir Judith das nicht erzählt?
DANIEL Reduziere deinen Realismus.
TOM Ich habe den Auftrag erhalten, weil ich einen bestimmten Stil habe. Ich habe den Auftrag nicht erhalten, weil ich keinen Stil habe.
DANIEL Die Banken wissen nie, was sie wollen. Nur eines ist sicher, dass sie keinen Realismus wollen. Banken wollen keinen Realismus.
TOM Meinen Stil habe ich mir nicht einfach schnell ausgedacht, sondern in vielen Jahren entwickelt. In diesem Stil steckt viel Entwicklungsarbeit.
DANIEL Das kann schon sein. Aber die Banken wollen keinen detailgetreuen Realismus.
TOM Ich entwerfe Häuser, die lebensnah sind.
DANIEL Die Banken wollen kein Gebäude, das lebensnah ist.
TOM Ich entwerfe Häuser, die mit dem Leben zu tun haben.
DANIEL Die Banken wollen kein Gebäude, das mit dem Leben zu tun hat.
TOM Aber genau deswegen habe ich den Auftrag erhalten. Ich habe den Auftrag für meinen Stil erhalten.
DANIEL Wer so viel Realismus in seine Arbeit steckt, hat ein Problem mit der Realität.
TOM Ich habe kein Problem mit der Realität. Gerade ein Architekt darf kein Problem mit der Realität haben.
DANIEL Wenn du kein Problem mit der Realität hättest, hättest du auch keine Probleme mit Judith.
TOM Judith und ich haben keine Probleme.
DANIEL Judith sieht das anders. Sie glaubt, dass ihr viele Probleme habt und sie glaubt auch, dass du ein Problem mit der Realität hast.
TOM Hat sie das gesagt? Alle Paare haben hin und wieder Probleme. Das ist ganz normal.
DANIEL Du musst deinen Realismus reduzieren. Realismus macht die Kunst nicht besser. Realismus macht auch das Leben nicht besser. Die Banken haben das verstanden.
TOM Ich werde meinen Stil nicht plötzlich ändern, nur um dir einen Gefallen zu tun.
DANIEL Dann wirst du den Auftrag nicht halten können. Und du wirst kein Geld verdienen. Mit Realismus verdient man kein Geld. Du bist der letzte, der noch an Realismus glaubt.
6
TOM Ich will nicht, dass du dich weiter mit Daniel triffst. Ich will nicht, dass du ihn in seinem Atelier besuchst. Ich will nicht, dass du an diesen Bildern dein Leben überprüfst.
JUDITH Bilder sind genau dafür da. Ich könnte mein Leben auch an anderen Bildern überprüfen, aber zufällig sind es die Bilder von Daniel.
TOM Das ist doch nur ein Vorwand.
JUDITH Wofür sollte das ein Vorwand sein?
TOM Es ist ein Vorwand, dich mit Daniel zu treffen. Du überprüfst dein Leben nicht an diesen Bildern, sondern an dem, der diese Bilder gemalt hat.
JUDITH Hauptsache ich überprüfe mein Leben.
TOM Warum muss man sein Leben überprüfen? Was ist das für eine sonderbare Idee? Das gefährdet unsere Ehe. Seitdem du dich mit Daniel triffst, ist unsere Ehe gefährdet.
JUDITH Unsere Ehe war schon davor in Gefahr. Das ist sie schon seit langer Zeit. Ich habe es auch schon seit langem geahnt, aber sicher bin ich mir darüber erst, seitdem ich Daniels Bilder gesehen habe. Ich habe die ganze Zeit gedacht, dass unsere Arbeit unsere Ehe mitzieht. Wie ein Anhänger hängt unsere Ehe an einem Auto und wird von diesem Auto mitgezogen. Ohne dass man sich besonders darum kümmern muss. In unserem Leben ist diese Kraft die Arbeit. Und je mehr Energie und Zeit wir in die Arbeit investieren, desto stärker zieht die Arbeit unsere Ehe mit. Wir brauchen immer nur der Arbeit Zeit und Energie zuzuführen, aber niemals der Ehe oder dem Leben selbst. Wir fahren das Auto unserer Arbeit und dieses Auto zieht unser Leben mit. So dass unsere Arbeit unser Leben lebt.
TOM Ich weiß nicht, was du meinst. Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst. Aber wenn du behauptest, dass unsere Ehe in Gefahr ist, müssen wir unsere Ehe retten.
JUDITH Wozu?
TOM Unsere Ehe gibt uns Kraft.
JUDITH Eine Ehe, die keine Ehe mehr ist, kann einem keine Kraft mehr geben.
TOM Bis vor kurzem hat unsere Ehe noch wunderbar funktioniert. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass sie das nicht mehr tut, wenn du mich nicht darauf gebracht hättest. Ich muss den ganzen Tag über so vieles nachdenken, dass ich keine Zeit habe, über etwas nachzudenken, was sehr gut funktioniert. Über eine Uhr, die stets die richtige Zeit anzeigt, braucht man nicht nachzudenken. Erst wenn sie das nicht mehr tut, muss man sie zur Reparatur bringen. Aber das ist früh genug.
JUDITH Du hast immer so viel gearbeitet. Du hast deine Entwürfe gezeichnet und bist deiner Vision gefolgt. Und das hat alles andere mitgezogen. Und ich habe ebenso viel gearbeitet. Ich habe meine Texte geschrieben. Ich habe Texte über Bilder und Texte über Bauwerke und Texte über Songs und Texte über Bands und Texte über Filme und Texte über Filmregisseure geschrieben. Ich habe die Häuser mit meinen Texten zerlegt und wieder zusammengesetzt. Ich habe sie durchleuchtet und bin sie durchwandert. Ich habe sie abgetastet und abgeklopft und abgebürstet. Das hat mein Leben mitgezogen. Ich durfte nur nie eine Pause machen. So lange ich keine Pause gemacht habe, so lange war alles in Ordnung.
TOM Es ist noch immer alles in Ordnung.
JUDITH Du hast dich immer so lebendig gefühlt, wenn du gearbeitet hast. Wenn du einmal nicht gearbeitet hast, hätte man glauben können, dein Körper lebt gar nicht. Dein Herz hat aufgehört zu schlagen. Deine Lunge hat aufgehört zu atmen. Aber du hast ja ohnehin fast immer gearbeitet.
TOM Ich habe so viel gearbeitet, weil ich meinen Stil entwickeln musste.
JUDITH Stimmt. Du musstest deinen Stil entwickeln.
TOM Du musstest ja auch deinen Stil entwickeln.
JUDITH Ja. Ich habe an meinem Stil gearbeitet. Mein Stil hat mein Leben mitgezogen. Mein Stil hat für mich mein Leben gelebt.
TOM Für diesen Stil bist du bekannt geworden. Das war doch immer dein Ziel. Du wolltest für deine Texte bekannt werden.
JUDITH Ja. Das war mein Ziel.
TOM Dieses Ziel hast du auch erreicht. Wer sein Ziel erreicht hat, muss doch zufrieden sein.
JUDITH Das stimmt. Ich müsste zufrieden sein.
TOM Du hast einen großartigen Stil entwickelt. Für diesen Stil hast du sehr viele Preise bekommen. Man erwartet sich, dass du auch in Zukunft deine Texte in diesem Stil verfasst.
JUDITH Es stimmt, ich habe einen nüchternen, kalten Stil. Manche sagen, er wäre perfekt. In meinen Texten gäbe es kein Wort zu viel. Es gäbe nichts Überflüssiges darin.
TOM Du hast so viele Jahre dazu gebraucht, diesen Stil zu entwickeln. Du hast so viel dafür geopfert. Du solltest jetzt zufrieden sein.
JUDITH Ich schreibe schon seit einem Jahr nicht mehr. Ich habe seit einem Jahr keinen einzigen Text mehr geschrieben.
TOM Warum sagst du mir das erst jetzt? Die ganze Zeit hast du, wenn ich dich gefragt habe, wie du mit deiner Arbeit voran kommst, geantwortet, dass es dir gut damit geht.
JUDITH Ich habe dich angelogen. Ich habe mich erschöpft gefühlt und wollte für eine Woche eine Pause machen. Dann habe ich die Pause auf zwei Wochen ausgedehnt. Dann auf noch eine weitere Woche. Ich habe einen Monat lang nichts geschrieben. Und dann noch einen Monat lang nichts getan. Bis ich nicht wieder anfangen konnte zu schreiben. Ich habe mich hingesetzt und es versucht, aber ich konnte nicht mehr schreiben.
TOM Warum nicht? Fang wieder damit an. Heute noch. Sofort. Setz dich an deinen Schreibtisch und fang an.
JUDITH Ich muss zuerst mein Leben überprüfen.
TOM Was heißt das?
JUDITH Ich kann dir nicht sagen, was das heißt, wenn ich gerade mitten drin bin. Ich muss selbst erst draufkommen, was das heißt.
TOM Ich will unsere Ehe retten.
JUDITH Warum?
TOM Ich brauche jetzt so viel Kraft für diesen Auftrag.
JUDITH Du musst dir diese Kraft woanders holen.
TOM Warum sagst du das? Warum sagst du das zu mir?
JUDITH Weil es der Wahrheit entspricht.
TOM Ich brauche jetzt keine Wahrheit, sondern eine gute Idee. Ich brauche Kraft für eine gute Idee. Ich brauche Kontinuität. Ich brauche Kontinuität und Kreativität.
7
DANIEL Du hast noch immer keine Idee.
JUDITH Und du wehrst dich dagegen, einen Rat anzunehmen.
DANIEL Einen Rat anzunehmen, ist nicht schlimm.
TOM Die Auftraggeber haben mir und nicht jemandem anderes den Auftrag gegeben. Ich glaube nicht, dass sie es gern sehen würden, wenn ich jemanden um Rat frage, dem sie nicht den Auftrag gegeben haben. Sie haben den Auftrag doch aus bestimmten Gründen mir und nicht einem anderen gegeben.
JUDITH Ich würde auf Daniel hören. Hör auf seinen Rat.
DANIEL Du brauchst niemandem zu sagen, dass du von jemandem einen Rat angenommen hast.
JUDITH Die Banken fragen ja auch ständig jemanden um Rat.
DANIEL Jeder Mitarbeiter einer Bank fragt zuerst irgendjemanden anderes um Rat, bevor er eine Entscheidung trifft.
JUDITH In einer Bank getraut sich niemand mehr, etwas allein zu entscheiden.
DANIEL Überall gibt es nur mehr Menschen, die andere Menschen um Rat fragen.
TOM Ich will aber nicht. Ich sitze jeden Tag vierzehn Stunden in meinem Büro und zeichne einen Entwurf nach dem anderen.
DANIEL Vierzehn Stunden am Tag? Das ist zu lang. Ich sitze jeden Tag nur zwei Stunden in meinem Atelier.
JUDITH Vierzehn Stunden ist zu lang. Das glaube ich auch.
TOM Das sind meine gewöhnlichen Arbeitszeiten.
DANIEL Du hast zu lange Arbeitszeiten. Kein Wunder, wenn dir keine Idee einfällt.
JUDITH Warum machst du es nicht so wie Daniel?
DANIEL Komm einmal zu mir ins Atelier und sieh mir beim Arbeiten zu.
TOM Das mache ich bestimmt nicht. Ich will auch nicht, dass mir jemand beim Arbeiten zusieht.
DANIEL Ich würde auch niemandem vierzehn Stunden lang beim Arbeiten zusehen.
JUDITH Du siehst ja, dass das mit den vierzehn Stunden nicht funktioniert.
TOM Ich brauche nur mehr einen oder zwei Tage. Dann habe ich die Lösung.
DANIEL Hast du an die Angestellten in dem Gebäude gedacht?
TOM Natürlich habe ich an sie gedacht.
DANIEL Du musst ein Gebäude entwerfen, in dem sich die Angestellten wohlfühlen.
TOM Ich entwerfe keine Häuser, in denen sich die Menschen wohlfühlen sollen. Ich entwerfe Häuser, in denen sie nachdenken sollen.
DANIEL Die Angestellten einer Bank sollen bei ihrer Arbeit nicht nachdenken, sondern sich wohl dabei fühlen.
TOM Ich baue keine Häuser zum Wohlfühlen.
JUDITH So wirst du den Auftrag nicht behalten können.
DANIEL Du denkst nicht an die Bedürfnisse der Angestellten.
TOM Ich habe immer nur Häuser entworfen, die zum Nachdenken auffordern. Das ist mein Markenzeichen.
DANIEL Die Bank will bestimmt nicht, dass ihre Angestellten nachdenken statt zu arbeiten.
JUDITH Worüber sollen sie überhaupt die ganze Zeit nachdenken?
TOM Sie sollen nachdenken und Kritik üben. Meine Häuser fordern die Bewohner dazu auf, Kritik zu üben. Meine Häuser fordern die Bewohner auf, die Gesellschaft zu verändern.
DANIEL Die Angestellten einer Bank sollen nicht die Gesellschaft verändern.
JUDITH Zumindest nicht in ihrer Arbeitszeit.
TOM Natürlich sollen sie das. Die Banken wollen jetzt Mitarbeiter, die die Gesellschaft verändern.
DANIEL Mitarbeiter, die die Gesellschaft verändern wollen, sind problematische Mitarbeiter. Mitarbeiter, die die Gesellschaft verändern wollen, verlangsamen Produktionsprozesse.
TOM Mitarbeiter, die die Gesellschaft verändern wollen, sind glaubwürdig. Sie erhöhen die Glaubwürdigkeit.
JUDITH Es stimmt, dass Banken ein Problem mit ihrer Glaubwürdigkeit haben, aber trotzdem wollen sie keine Mitarbeiter, die die Gesellschaft verändern wollen.
TOM Banken müssen sich ihre Glaubwürdigkeit zurückholen. Deshalb haben sie mich beauftragt. Meine Entwürfe, die die Menschen zum Denken auffordern, holen für sie die Glaubwürdigkeit zurück.
DANIEL Du musst dein Konzept überdenken.
TOM Das ist kein Konzept, das ist mein Markenzeichen. Das brauche ich nicht zu überdenken.
DANIEL Banken wollen Mitarbeiter, die an ihre Bank glauben.
JUDITH Und die an ihr Bankgebäude glauben.
TOM Banken wollen jetzt Mitarbeiter, die die Arbeit ihrer Bank kritisch hinterfragen. So wie sie jetzt Kunden wollen, die kritische Fragen stellen.
JUDITH Das ist ja ganz neu, dass Banken kritische Kunden wollen.
TOM Ja, das ist jetzt neu.
DANIEL Banken wollen Kunden, die sich wohl fühlen.
TOM Man fühlt sich nur wohl, wenn man denkt. Banken wollen jetzt Kunden, die sich bewusst kritisch ihrer Bank gegenüber verhalten.
JUDITH Das ist ja ganz neu, dass Banken aufgeklärte und kritische Kunden wollen.
DANIEL Vielleicht suchen sie nach Kunden, die ein kritisches Bewusstsein haben, aber das Wichtigste ist, dass diese Kunden Vertrauen zu ihrer Bank entwickeln.
TOM Es geht nicht darum, der Bank blind zu vertrauen, sondern ihr mit einem kritischen Bewusstsein zu vertrauen. Banken wollen Kunden, die ihrer Bank mit einem kritischen Bewusstsein vertrauen.
JUDITH Das schließt sich aus. Es gibt Kunden, die ein kritisches Bewusstsein haben und Kunden, die Vertrauen entwickeln.
TOM Banken wünschen sich Kunden, die aufgrund ihres kritischen Bewusstseins Vertrauen entwickeln.
JUDITH Ich habe kein Vertrauen zu meiner Bank, obwohl ich mit meiner Bank in einem geschäftlichen Verhältnis stehe, das auf Vertrauen basiert. Ich habe kein Vertrauen zu meiner Bank und meine Bank hat kein Vertrauen zu mir und gleichzeitig tun wir so, als hätten wir maximales Vertrauen zueinander.
DANIEL Ich würde ein Gebäude entwerfen, das einen auffordert, Vertrauen zu entwickeln.
JUDITH Ein Gebäude, bei dem man nicht als erstes an Kredite für Rüstungskonzerne denkt.
DANIEL Oder an Kredite für Fischereiunternehmen, die die Meere ausbeuten.
JUDITH Oder an Kredite für Konzerne, die Regenwälder abholzen.
TOM Das weiß ich. Das weiß ich.
DANIEL Bei einem Turm aus Glas denkt man an Kredite für Rüstungskonzerne.
JUDITH Oder an die Gewinne aus Krediten an Diamantenminen.
DANIEL Überall stehen diese Türme aus Glas.
JUDITH Oder aus dunkelgrauem Granit.
DANIEL Banken wollen nicht mit Rüstungskonzernen assoziiert werden.
JUDITH Oder abgeholzten Regenwäldern.
DANIEL Du musst den Auftrag im Sinn der Auftraggeber erfüllen.
JUDITH Vielleicht wollen Banken jetzt, dass ihre Mitarbeiter denken, aber nicht, dass sie das Falsche denken.