Kommunikation der Schweine
Hella-Birgit Mascus, Kay Krause und Guido Fuchs am Stadttheater Bremerhaven, 2002 (Foto: Heiko Sandelmann)
© S. Fischer Verlag, Aufführungsrechte S. Fischer Verlag Theater & Medien
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Textausschnitt
1
In der Wohnung von Albert und Martha. Die üblichen Einrichtungsgegenstände: mehrere Polstersessel, ein Couchtisch, eine Stehlampe, ein Teppich, der nur ohne Schuhe betreten werden darf, ein Fernseher auf seinem Tischchen, ein Esstisch mit Stühlen, eine Vitrine, dunkle Vorhänge. Von draußen dringt weder ein Geräusch noch der kleinste Finger Licht herein. Martha bereitet das Abendessen vor.
ALBERT Die Stühle stehen nicht richtig.
MARTHA Das stimmt, das stimmt.
ALBERT Sollen die Stühle so stehen?
MARTHA Nein, nein. Das sollen sie nicht.
ALBERT Warum stehen sie dann nicht auf ihrem Platz?
MARTHA Ich muß sie unabsichtlich verschoben haben.
ALBERT Hast du nicht aufgepasst?
MARTHA Doch. Ich passe auf.
ALBERT Du passt nicht genügend auf.
MARTHA Doch, doch. Es tut mir leid.
ALBERT Wir stellen sie wieder so, wie sie gehören.
MARTHA So, wie sie immer stehen.
ALBERT Sie sollen dort stehen, wo sie hingehören.
MARTHA Das stimmt, das stimmt.
ALBERT Gibt es irgendeinen Grund, warum sie plötzlich anders stehen sollten?
MARTHA Nein, nein. So müssen sie stehen.
ALBERT Gibt es irgendeinen Grund?
MARTHA Keinen Grund.
ALBERT Wir möchten es eben so haben.
MARTHA Wir wollen es so haben, wie es uns entspricht.
ALBERT Unordnung.
MARTHA Das stimmt. Das entspricht uns nicht.
ALBERT Das macht mich unruhig.
MARTHA Jeden, Albert, jeden.
ALBERT Unruhe brauchen wir nicht.
MARTHA Niemand braucht das.
ALBERT Jeder, wie er will.
MARTHA Selbstverständlich. Jeder, wie er will.
ALBERT Jeder genauso, wie er will.
MARTHA Wie es jedem gefällt.
ALBERT Wir haben unsere eigene Vorstellung davon.
MARTHA Das ist auch richtig so.
ALBERT Wie man sich etwas vorstellt, so muß es dann auch sein. Es muß der Vorstellung entsprechen.
MARTHA Ein gutes Gefühl muß man bei allem haben.
ALBERT Es muß stimmen.
MARTHA Ein gutes Gefühl muß man in sich spüren.
ALBERT Stimmen muß es. Ich möchte, dass alles hier stimmt.
MARTHA Wenn man ein gutes Gefühl in sich spürt, dann stimmt auch alles.
ALBERT Bist du zufrieden?
MARTHA Selbstverständlich bin ich zufrieden.
ALBERT Ich möchte, daß du zufrieden bist.
MARTHA Das bin ich auch.
ALBERT Es gibt keinen Grund, unzufrieden zu sein.
MARTHA Das stimmt, das stimmt. Dazu haben wir wirklich keinen Grund.
ALBERT Haben wir irgendeinen Grund, uns zu beklagen?
MARTHA Nein.
ALBERT Man findet für alles einen Grund.
MARTHA Dann ist man selber schuld.
ALBERT Haben wir irgendeinen Grund, einander anzulügen?
MARTHA Keine Lügen, Albert, keine Lügen.
ALBERT Hättest du einen Grund, mich zu belügen?
MARTHA Keine Lügen. Das haben wir uns vorgenommen.
ALBERT Ich wüßte nicht, welchen Grund.
MARTHA Ich habe dich niemals belogen und ich werde dich niemals belügen.
ALBERT Das weiß ich, Martha. Du könntest mich auch nicht belügen.
MARTHA Ich habe keine Geheimnisse vor dir und du versteckst keine Geheimnisse vor mir. Das haben wir uns so vorgenommen. Die anderen verbringen den ganzen Tag mit ihren Lügen und schlafen auch damit ein. Die Lügen sind schwarz und schwer wie Steine. Deshalb werden die anderen an ihren Lügen sterben.
ALBERT Die anderen, das sind nicht wir.
MARTHA Das stimmt, das stimmt.
ALBERT Die anderen gehen uns nichts an. Wir gehen unseren eigenen Weg.
Martha beginnt, den Tisch zu decken.
MARTHA Ich möchte heute etwas Besonderes.
ALBERT Weshalb? Wir brauchen nichts Besonderes.
MARTHA Doch, doch. Heute wird es ein ganz besonderer Abend sein.
ALBERT Wenn du möchtest. Aber wir brauchen keine besonderen Abende.
MARTHA Ich möchte heute die guten Teller.
ALBERT Weshalb?
MARTHA Ausnahmsweise heute.
ALBERT Wenn du es unbedingt möchtest, dann nehmen wir sie.
MARTHA Gefallen sie dir noch?
ALBERT Sie haben mir von Anfang an gefallen und ich habe meine Meinung darüber nicht geändert.
MARTHA Erinnerst du dich noch daran, wo wir sie gekauft haben?
ALBERT Warum sollte ich das vergessen haben? Ich weiß es, Martha. Natürlich weiß ich es. Wenn man nicht will, dann vergisst man auch nichts.
MARTHA Sie sind noch wie neu.
ALBERT Sie sind noch wie neu, weil wir sehr gut aufpassen darauf.
MARTHA Wir verwenden sie viel zu selten.
ALBERT Wir können sie jeden Tag verwenden. Morgens, mittags, abends. Wann du willst. Es gibt keinen Grund, dass wir uns etwas verbieten. Sich etwas zu verbieten, ist lächerlich. Nur die anderen müssen sich dauernd etwas verbieten, damit sie Grenzen haben. Wer nicht weiß, was er darf, muss sich an Verbote halten. Wer maßlos ist, muss sich an Maße halten. Wer nicht weiß, was er ist, braucht immer jemanden, der es ihm sagt.
MARTHA Ich werde sie auch mit der Hand abwaschen. Jeden ganz vorsichtig.
ALBERT Ich weiß, dass du aufpassen wirst darauf.
MARTHA Ich werde aufpassen darauf, weil sie wertvoll sind. Sie sind wertvoll, weil sie uns gehören. Alles, was uns gehört, ist wertvoll, weil es uns gehört.
ALBERT Jeden Gegenstand gibt es nur ein einziges Mal. Genauso muss man ihn auch behandeln.
MARTHA Das ist das Schöne an uns. Dass wir für solche Dinge Verständnis haben.
ALBERT Uns sind solche Dinge wichtig. Anderen ist anderes wichtig. Jeder, wie er will.
MARTHA Jeder so, wie er es für richtig hält.
ALBERT Du wirst sie mit einem weichen Schwamm abwaschen. Jeden einzelnen sorgfältig mit der Hand.
MARTHA Es wird kein einziger zerbrechen.
ALBERT Das wird uns nicht passieren.
MARTHA Nein, nein. Das wird uns nicht passieren.
ALBERT Natürlich könnten wir uns dann auch einen neuen Teller kaufen.
MARTHA Das stimmt. Wenn wir wollten, dann könnten wir es.
ALBERT Das könnten wir uns leisten. Wie nichts.
MARTHA Ich weiß. Das könnten wir uns spielend leisten.
ALBERT Jeden dieser Teller könnten wir einfach gegen die Wand werfen. Einfach so aus einer Laune heraus. Einfach so, weil wir mit einem Mal verrückt geworden sind. Wir könnten jeden einzelnen zerschlagen.
MARTHA Aber das würde uns kein Vergnügen bereiten.
ALBERT Das würde uns nicht entsprechen.
MARTHA Das stimmt. So sind wir nicht. Und das ist auch richtig so. Die Sonne scheint nur so lange auf uns herunter, so lange wir es wert sind, dass sie auf uns herunterscheint. Wenn wir uns Mühe geben, werden wir auch belohnt. Jeder möchte eine Belohnung, aber nicht alle werden eine bekommen. Manche werden gar nichts bekommen. Aber die tun mir nicht leid. Dann hätten sie sich mehr angestrengt.
ALBERT Bist du glücklich?
MARTHA Selbstverständlich, Albert. Selbstverständlich bin ich glücklich.
ALBERT So glücklich wie am Anfang?
MARTHA Ich wüsste nicht, warum sich das geändert haben sollte.
ALBERT Die Gefühle dürfen sich nicht ändern.
MARTHA Nein, nein. Die Gefühle dürfen sich nicht ändern wie das Wetter. Norden bleibt Norden und Süden bleibt Süden. Berge bleiben Berge und Täler bleiben Täler. Daran wird sich niemals etwas ändern.
ALBERT Ich möchte, dass du glücklich bist.
MARTHA Das bin ich. Ich schwöre es dir.
ALBERT Kann ich mich darauf verlassen?
MARTHA Das kannst du, Albert. Du brauchst dir darüber keine Sorgen zu machen.
ALBERT Ich mache mir auch keine Sorgen darüber. Nur wer sich nicht sicher ist über sich selbst, hat Grund, sich dauernd über irgend etwas Sorgen zu machen. Ich brauche meine Zeit nicht damit zu vergeuden.
MARTHA Das gute Besteck?
ALBERT Möchtest du das gute Besteck?
MARTHA Ausnahmsweise heute.
ALBERT Gibt es einen Grund, warum wir nicht das gute Besteck verwenden sollten?
MARTHA Nein, den gibt es nicht.
ALBERT Gibt es einen Grund, warum wir es uns vorenthalten sollten?
MARTHA Wir könnten eine Ausnahme machen und es heute benützen.
ALBERT Ich möchte dir eine Freude bereiten. Ich möchte dir einen Wunsch erfüllen. Ich möchte gut zu dir sein.
MARTHA Ich weiß. Das möchte ich auch.
ALBERT So muß es zwischen zwei Menschen sein.
MARTHA Zwischen uns muss es besser sein als bei den anderen. Das haben wir uns vorgenommen.
ALBERT Zwischen uns ist es genau so, wie wir es haben wollen.
MARTHA Erinnerst du dich?
ALBERT Sehr gut, Martha. Ich erinnere mich sehr gut.
MARTHA Als wir die ganze Wohnung auf den Kopf stellen mussten.
ALBERT Ich erinnere mich sehr gut daran.
MARTHA Wir haben den Abfalleimer ausgeleert. Wir haben den Abfall auf dem ganzen Boden ausgebreitet. Wir haben sogar im Müllcontainer danach gesucht. Einen ganzen Tag haben wir damit verbracht.
ALBERT Wir hätten uns auch eine neue Gabel kaufen können. Aber das wäre nicht richtig gewesen.
MARTHA Manchmal passieren uns Dinge, die uns nicht passieren sollten.
ALBERT Jetzt nicht mehr. Jetzt wird uns das nicht mehr passieren.
MARTHA Manchmal sind wir so schwach wie die anderen auch. Überall stehen Fallen und irgendwann tritt man in eine Falle hinein.
ALBERT Am Anfang haben wir dauernd Fehler gemacht. Einen großen Fehler nach dem anderen.
MARTHA Am Anfang machen alle Fehler. Aber wir haben aus unseren Fehlern gelernt.
ALBERT Erinnerst du dich? Ich habe geraucht. Mehr als zwei Packungen am Tag.
MARTHA Bis du erkannt hast, dass du auch ohne Zigaretten leben kannst. Nicht besser und nicht schlechter.
ALBERT Du hast jeden Abend eine Tafel Schokolade gegessen. An manchen Abenden sogar zwei. Bis wir erkannt haben, dass es auch ohne die Schokolade geht.
MARTHA Wir sind abends ausgegangen. Oft drei oder vier Mal in der Woche.
ALBERT Jetzt können wir uns darüber nur noch wundern.
MARTHA Ins Kino zum Beispiel. Zum Essen. In eine Bar. Oder einfach nur spazieren.
ALBERT Wozu? Wozu sollten wir ins Kino gehen? Oder in ein Restaurant? Oder in eine Bar?
MARTHA Es gibt jetzt einfach keinen Grund mehr dazu.
ALBERT Wir haben auch Freunde getroffen.
MARTHA Das stimmt. Wir haben viele Freunde gehabt.
ALBERT Aber wir haben erkannt, dass wir auch ohne Freunde leben können.
MARTHA Sie fehlen uns nicht. Überhaupt nicht.
ALBERT Wenn sie uns fehlen würden, dann würden wir uns neue suchen.
MARTHA Wir würden jederzeit bessere finden.
ALBERT Du wolltest unbedingt ein Haus mit einem Garten.
MARTHA Ein Haus mit einem kleinen, hübschen Garten rundherum. Ein Haus, wie es unseren Vorstellungen entspricht.
ALBERT Das wolltest du unbedingt.
MARTHA Ich war besessen davon.
ALBERT Du hast nicht aufgehört, davon zu reden. Immer wieder hast du damit angefangen.
MARTHA Bis du mich überzeugt hast, dass wir das nicht brauchen. Du hast mir diese Idee aus dem Kopf geredet und jetzt bin ich dir dankbar dafür.
ALBERT Wir wollten auch Kinder haben.
MARTHA Ja. Aber erst dann, wenn wir es uns wirklich leisten können.
ALBERT Jetzt könnten wir es uns leisten. Wie nichts.
MARTHA Aber jetzt empfinden wir den Wunsch nicht mehr.
ALBERT Sie fehlen dir nicht.
MARTHA Nein, sie fehlen mir nicht.
ALBERT Du denkst nicht mehr darüber nach.
MARTHA Nein.
ALBERT Sie fehlen uns nicht.
MARTHA Ich habe mir dauernd Fragen gestellt und an allem gezweifelt.
ALBERT Wer sich dauernd Fragen stellt, stellt sich selbst in Frage. Wer an allem zweifelt, verzweifelt irgendwann.
MARTHA Auf allen Wolken sollen Engel sitzen. Träume, die gut schlafen. Eine Seele, die zufrieden ist. Das brauchen wir.
ALBERT Charakter.
MARTHA Das stimmt.
ALBERT Ein Charakter.
MARTHA Aus jedem muss irgendwann ein Charakter werden.
ALBERT Zwei Arme und zwei Beine, das macht noch keinen Charakter. Jeder hat eine Meinung und darf seine Meinung auch sagen. Aber eine Meinung ist kein Charakter.
MARTHA Mein Vater hat mich jeden Abend geschlagen, damit ich einen Charakter bekomme. Meine Mutter hat mich ins Badezimmer eingesperrt. Sie haben sich alle nur erdenkliche Mühe mit mir gegeben.
ALBERT Niemand möchte ein Charakter werden. Weil das jedem zu anstrengend ist.
MARTHA Ich habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Der kleine Körper hat nur so gestrampelt. Sie mussten den Charakter hineinprügeln in mich. Ich wollte einfach nicht. Man wird geboren, man isst und trinkt und kostet Geld. Man wächst und wird erwachsen, aber der Charakter will so klein bleiben wie eine Sommersprosse.
ALBERT Wir müssen dankbar sein, wenn wir einen Charakter haben.
MARTHA Das stimmt, das stimmt. Dankbar dafür, dass wir einen Charakter haben.
ALBERT Aber wir sind nichts Besseres.
MARTHA Nein. Wir sind nichts Besseres.
ALBERT Man darf sich nicht für etwas Besseres halten.
MARTHA Das tun wir auch nicht.
ALBERT Wir sind nichts Besseres oder Schlechteres als die anderen. Keine Ausnahme von der Regel. Kein Extrawunsch. Wir sind genau so wie die anderen. Unser Platz ist dort, wo alle sind. Dort gehören wir hin.