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Korrekturen am Reich der Zitronen

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

Über die Stillleben-Zeichnungen von Sonja Gangl

Das Wort Stillleben bezeichnet nicht ein Leben, das sich geräuschlos, in aller Stille vollzieht, sondern ein Leben, das zum Stillstand gekommen ist. So wie eine Uhr, die man vergessen hat, aufzuziehen. Die Zeiger bewegen sich nicht mehr. Was sich nicht bewegt, lebt nicht. Ein Leben, das zum Stillstand kommt, ist kein Leben mehr.

Die Abwesenheit von Leben sagt noch etwas anderes. Abwesend kann nur sein, was einmal anwesend war. Selbstverständlich waren diese Räume einmal bewohnt. Irgendjemand hat all das zusammengestellt, was da auf dem Tisch und den Stühlen und in der Fensternische zu sehen ist. Vor unserer Zeit. Vor der Zeit des Betrachters. Jetzt hat diese Person den Raum verlassen. Vielleicht erst vor ein paar Minuten, vielleicht schon vor langer Zeit. Wir sind mit dem Stillleben allein. Mutterseelenallein. Ohne die Seele irgendeines anderen, ohne die Seele irgendeiner Mutter. Allein mit der eigenen Seele. Nicht einfach, das auszuhalten. Das ist die Idee dieser Bilder. Ein Stillleben meint immer den Betrachter. Ganz ausdrücklich. Es spricht ihn direkt an. Jedes andere Genre kommt im Prinzip auch ohne einen Betrachter aus.

Ein Stillleben zeigt. Die Geste des Zeigens ist die Bewegung in diesen Bildern. In keinem anderen Genre wird so ausdrücklich gezeigt. Sieh her. Sieh dir das an. Das habe ich für dich zusammengestellt. Das wurde für dich so arrangiert. Es ist ein Zeigen und Präsentieren und kein Erzählen. Es ist eine Ausstellung und Zur-Schau-Stellung und keine Szene. Jedes Bild wird dem Betrachter wie ein Silbertablett in die Hand gedrückt. Jedes Arrangement verlangt nach einem Betrachter und es meint immer einen ganz bestimmten. Wir sind diejenigen, die nichts ablehnen und nichts zurückweisen dürfen. Die Person, die die Zitronen und Kürbisse und Wildvögel zusammengetragen, arrangiert und danach den Raum verlassen hat, sagt damit: Auf mich kommt es nicht an. Ich bin nicht wichtig. Es geht darum, was ich zu zeigen habe. Was ich in diesem Raum zurücklasse, darauf kommt es an. Was mir wichtig ist, könnte auch in deinem Leben eine Rolle spielen.

Wir werden mit der Schönheit der Zitronen und Wildvögel und Wiesenblumen allein gelassen. Wenn wir wollen, können wir uns an dieser Schönheit erfreuen. Wir können sie genießen. In diesen Bildern ist die Natur zu unserem Privatvergnügen da. Sie hat hier als einzige Eigenschaft, schön zu sein. Und sie ist beherrschbar. Sie ist so groß wie eine einzige Zitrusfrucht, so groß, dass unsere Hand sie umfassen kann. Die Natur macht uns, wenn wir sie bewundern, selbst ein bisschen schöner. Die Person, die diese Kostbarkeiten vor uns ausgebreitet hat und behauptet, dass genau das wichtig ist, fragt uns damit, ob uns diese Dinge ebenso wichtig sind. Darauf müssen wir eine Antwort finden. Die Frage lautet nicht, was uns gefällt oder schmeckt, was uns die Zeit vertreibt oder berauscht, es geht darum, was wir für wichtig halten.

Jedes Stillleben stellt eine Behauptung auf. Die unbekannte Person, die den Raum verlassen hat, behauptet: Das brauche ich. Ohne das kann ich nicht leben. Vielleicht können wir ohne Zitronen existieren, aber ich will nicht in einer Welt leben, in der es keine Zitronen gibt. Die gemalte Zitrone bedeutet genau das: Die Welt ist großartig und schön, weil es darin Zitronen gibt. Selbst wenn ich auf Zitronensaft allergisch reagiere. Die Welt ist wunderbar, weil es Wildvögel gibt, auch wenn ich mich selbst vegan ernähre. Und darüber hinaus: Die Welt ist phantastisch, weil es Zeichenstifte und Pinsel und Farben gibt, mit denen man eine Zitrone und einen Vogel zeichnen und malen kann, auch wenn man keine Zitronen und Vögel essen mag.

Die Geste des Zeigens sagt nicht, das ist schön, sie sagt, das brauche ich. Dass Zitronen und Wildvögel schön sind, wissen wir selbst, niemand muss uns das erklären. Wer behauptet, etwas zu brauchen, behauptet sich selbst. Diese Selbstbehauptung macht aus dem Überleben ein Leben. Zum bloßen Überleben braucht es nicht viel, zum Leben schon. Wer behauptet, dieses und jenes zu brauchen, weiß schon, wie das gute Leben aussehen sollte. Auf den Stillleben des siebzehnten Jahrhunderts sind keine Besitzverhältnisse und keine Gerechtigkeit dargestellt. Keine Formen der Unterdrückung und keine Formen des Aufbegehrens. Aber das, was man sich kaufen kann, wenn man Geld besitzt, und noch etwas Freiheit dazu. Die Zitrone ist kein Synonym für Freiheit, aber ohne Wohlstand und Freiheit kann man sich keine Zitronen kaufen.

Die Melone und der Kürbis und die Gurke und die Quitte und der Stockerpel und die Zwergtrappe und die Turteltaube in einem Bild von Juan Sánchez Cotán zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts sind keine Sehnsuchtsgegenstände sondern Forderungen. Zu einem guten Leben müssen diese Dinge dazugehören. Wir haben ein Recht darauf. Wenn die Natur uns diese Fülle zur Verfügung stellt, müssen wir doch ein Recht darauf haben, auf diese Fülle zugreifen zu dürfen. Es kann nicht sein, dass einer von uns davon ausgeschlossen ist.

Luxusgüter haben in jedem Sinn einen hohen Preis. Das ist ihre Definition. Sie sind das Gegenteil des Standards. Sie übersteigen jedes Maß. Sie sind nicht demokratisch. Sie stehen nur einer kleinen Elite zur Verfügung. Sie eignen sich für Distinktionsgewinne. Luxus für alle kann es der Definition nach nicht geben. Genauso wenig gibt es ein Recht auf Luxus. Trotzdem muss dieses Recht erkämpft werden. Es gibt kein Recht auf Zitronen und Melonenscheiben, aber man muss für eine Gesellschaft kämpfen, die so viel Wohlstand produziert, dass die Zitronen, die angebaut und geerntet werden, allen zugute kommen. Die spanischen und niederländischen Stillleben-Gemälde des siebzehnten Jahrhunderts, die selbst Luxusgüter waren, zeigen den Luxus, der möglich ist und der aus einem Leben ein besseres Leben macht. Sie zeigen, dass die Natur alles bereitstellt, und dass es nur mehr darauf ankommt, den Luxus, und das heißt, den Überfluss gerecht zu verteilen.

Sonja Gangl nimmt mit ihren Stillleben-Zeichnungen direkt Bezug auf die Stillleben des siebzehnten Jahrhunderts. Formal, indem sie verwandte oder abgewandelte Motive wählt, und inhaltlich, indem sie dieselbe Behauptung wie die Maler des siebzehnten Jahrhunderts aufstellt: Das brauchen wir. Mit dem Unterschied bloß, dass diese Behauptung in ihrer ironischen Umkehrung gelesen werden muss: Brauchen wir das? Tatsächlich stellt sich bei jedem der in den Zeichnungen dargestellten Objekte aus dem Kreislauf von Produktion und Konsumtion die Frage: Brauchen wir das? Brauchen wir das alles? Brauchen wir so viel davon?

Die in den Stillleben-Zeichnungen dargestellten Lebensmittel und Verpackungsmaterialien zeigen uns, was wir können. Wir können Zitronen und Orangen und Avocados in Spanien anbauen und sie zum Verkauf in jedes Land Europas transportieren. Wir können im Prinzip jedes Gemüse in fast jedem Land der Welt produzieren und es in so gut wie jedem anderen Land der Welt verkaufen. Wir können alles im Überfluss produzieren und diesen Überfluss auf Containerschiffe verladen. Wir haben die richtigen Techniken dafür. Wir können so gut wie alles genetisch verändern, um noch mehr davon in noch kürzerer Zeit herzustellen. Wir beherrschen sehr viel und wir werden in Zukunft noch viel mehr beherrschen. Was wir können, braucht uns als Betrachter nicht vorgeführt zu werden. Wir wissen es ja. Wir sehen es täglich im Supermarkt, wir sehen es stündlich und minütlich, wenn wir im Internet einkaufen. Man braucht es uns auch nicht unter die Nase zu reiben, weil wir schon lange ein schlechtes Gewissen haben. Wir haben gelernt, unser schlechtes Gewissen als einen Teil von uns zu akzeptieren. Das schlechte Gewissen ist der Zusatzstoff, der die Luxusgüter dauerhaft haltbar macht.

Sonja Gangls Stillleben-Zeichnungen schicken uns nicht in einen Fortbildungskurs für Globalisierungskritik. Sie haben nicht die Absicht, uns zu verbessern. Sie erwarten keine Antwort auf die Frage, ob wir das alles brauchen. Jeder weiß, dass jedes Jahr Milliarden Tonnen Lebensmittel in den Müll geworfen werden. Wie viele Milliarden, will niemand von uns wissen. Jeder weiß, dass die schickste Frucht der Gegenwart, die Avocado, viel zu viel Wasser braucht und viel zu viele Kilometer zurücklegen muss, bis sie auf unserem Teller landet, der die Welt verbessert. Und jeder weiß noch viel mehr. Und keiner weiß, wie wir diesem Teufelskreis aus Haben-wollen und Eigentlich-nichts-davon-brauchen entkommen können. Keiner hat ein Rezept dafür, wie man es besser machen könnte.

Durch ihre handwerkliche und fast altmeisterliche Perfektion konfrontieren uns Sonja Gangls Zeichnungen mit unserer Sehnsucht nach Schönheit und dem Wunsch, selbst im Hässlichen etwas Schönes zu entdecken. Gelingt es uns, in dem offensichtlich Falschen eine Form von Schönheit zu finden? Ist das Hässliche gar nicht so hässlich und das Falsche gar nicht so falsch? Gelingt es uns, in jedem Gegenstand einen Rest von Schönheit aufzuspüren, und wird diese Schönheit unser Gewissen entlasten?

Die Zeichnungen sagen: Du bist so verführbar. Und ich gebe dir das, wonach du dich sehnst. Du sehnst dich nach einem Gegenstand, von dem du sagen kannst, dass er schön ist. Man braucht dir bloß eine wirklichkeitsgetreu gezeichnete Zitrone zu zeigen, schon spürst du in dir eine Sehnsucht nach der reinen, unzerstörten Natur. Und nach der reinen, unzerstörten Kunst. Nach dem klaren, reinen Wasser aus den Bergen und dem klaren, reinen Wasser aus den Museen. Diese Sehnsucht ist niemandem auszutreiben. Sogar im zerknüllten Verpackungspapier suchen wir noch nach der unzerstörbaren Natur. Es ist unser Wunsch, alles richtig zu machen, und die Hoffnung, in der Vergangenheit nicht alles falsch gemacht zu haben. Erinnern wir uns an die Milliarden Tonnen weggeworfener Lebensmittel, wissen wir, dass wir fast gar nichts richtig gemacht haben. Die Kunst erscheint uns dann als das letzte Werkzeug, im Nachhinein die Welt korrigieren zu können.

Wenn der Trompe-l’oeil-Effekt in den Bildern des siebzehnten Jahrhunderts einmal die Kunst der Täuschung war, so ist der Trompe-l’oeil-Effekt in der Kunst der Gegenwart die Kunst der Enttäuschung. Kunstwerke müssen auf eine doppelte Weise täuschen oder eben ent-täuschen, damit der Abstand zwischen unserem Anspruch und den Ergebnissen unserer Bemühungen deutlich wird. Sobald wir nicht länger nach Täuschungen sondern Enttäuschungen suchen, sind wir auch der gerechten Verteilung des guten Lebens einen Schritt näher gekommen.

Man versehe ihn mit Luxus, auf alles Notwendige könne er verzichten, formulierte es Oscar Wilde einst ironisch. Man muss es heute anders und ganz unironisch sagen: Es gibt genügend Luxus für alle, und dieser Luxus ist absolut notwendig. Und wenn wir es richtig machen, wird die Quelle des Luxus auch nicht versiegen.