Lebendes Geld
© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor
Wenn Sie sich vorgenommen haben, für die Dauer einer Minute einmal nichts mit Ihrer Hand zu berühren, was zu kaufen wäre, und auch während dieser Zeit nicht daran zu denken, was Sie heute noch unbedingt kaufen müssen oder morgen oder am nächsten Samstag kaufen sollten, wenn Sie sich vorgenommen haben, Ihre Aufmerksamkeit einmal auf keinen Fall einem Gegenstand oder einer Sache zu schenken, die darum bitten, gekauft zu werden, wenn Sie sich also für die Dauer einer Minute einmal ganz heraushalten wollen aus diesem System von Angebot und Nachfrage, als kleines Experiment oder aus dem Gefühl heraus, keine Luft mehr zu bekommen, dann wird Ihnen das schon gelingen. Ja, selbstverständlich gelingt so etwas. Sie werden für eine Minute ganz weit entfernt sein von allem und sich zufrieden fühlen und frei. Aber diese Minute kostet Sie trotzdem 4 Cent. Denn wenn Sie für Ihre Wohnung im Monat 500 Euro Miete zahlen und 100 Euro für Strom und Gas und Ihre Sozialversicherungsbeiträge 250 Euro betragen und Sie pro Tag mit einem Aufwand von 20 Euro für Lebensmittel und einen Kaffee rechnen müssen und natürlich nicht auf Ihre private Pensionsvorsorge vergessen dürfen, die mindestens 80 Euro verschlingt, und Ihre Handyrechnung 40 Euro beträgt und Sie wenigstens 70 Euro für den Besuch kultureller Veranstaltungen auf die Seite legen müssen und sollten Sie ein Auto besitzen, kommen ja noch mindestens 100 Euro dazu, dann kostet Sie diese Minute und dieses Gefühl eben 4 Cent.
Die Frau im Café „Roma“ in der großen Halle des Shopping-Centers ist dreißig und trägt einen langen, violetten Rock und eine Jeansjacke über einem schwarzen Pullover. Sie hat dunkelrot gefärbte, schulterlange Haare und im rechten Nasenflügel ein piercing, einen kleinen silberfarbenen Delphin. Sie bestellt sich beim Kellner ein Red Bull und stellt die zwei Einkaufstaschen neben sich auf einen Stuhl. Dann zündet sie sich eine Zigarette an. An jedem Handgelenk trägt sie einen silbernen Armreifen und abwechselnd dreht sie mit der rechten Hand den Armreifen am linken Handgelenk und mit der linken Hand den Reifen am rechten Handgelenk. Nach einigen Minuten zieht den Stuhl mit den Einkaufstaschen näher zu sich heran, öffnet die beiden Taschen und sieht sich noch einmal die Kostbarkeiten an, die sie heute gekauft hat.
Das Licht in der Halle ist hell und weich. Die Wellen der Rolltreppe rollen an den Strand. Vor dem Elektronik-Shop kontrolliert ein Security-Guard, dass niemand mit einer Tasche das Drehkreuz passiert. Er trägt eine dunkelblaue Jacke, eine graue Cargo-Hose mit Schenkeltaschen und halbhohe schwarze Stiefel. Er gibt einem fünfzehnjährigen Jugendlichen mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er seinen Rucksack in einem Schließfach verstauen muss. Der Jugendliche stopft daraufhin den Rucksack in das Fach, wirft eine Münze ein, schließt die durchsichtige Plexiglastür, zieht den Schlüssel ab und geht dann durch das Drehkreuz in den Shop. Zwei Männer einer Reinigungsfirma lehnen sich über das Gestänge ihres Wagens und rauchen. Sie tragen einen roten Overall und weiße Turnschuhe. Vor einer blauen Tonne mit einem darüber aufgespannten Sonnenschirm werben ein Mann und eine Frau für die neue American-Express-Karte. Der fünfzigjährige, grauhaarige Mann und die dreißigjährige, schwarzhaarige Frau halten den Vorbeigehenden mit ausgestrecktem Arm eine Kreditkarte entgegen und rufen dabei „American Express, American Express“. Die Frau hält mit einer Hand die Karte, während sie auf ihrer anderen Hand Nägel kaut. Ein alter Mann in einer Jeans und einem grauen Pullover schiebt einen Einkaufswagen durch die Halle. In dem Wagen liegt eine große Schachtel mit der Abbildung eines Fernsehers. Eine junge Frau sagt zu ihrer, ihr von der Rolltreppe entgegen kommenden Mutter: „Ich habe gebetet, dass du heute Zeit für mich hast.“
Das Licht ist weich und mild. Auf den Wellen der Rolltreppe schaukeln Segelboote. In den Lautsprecherboxen zwitschern Vögel. Eine Frau, die einen Trolley hinter sich herzieht, geht auf einen der Tische des Cafés zu, nimmt die Getränkekarte aus der Halterung und liest darin. Dann steckt sie die Karte wieder in die Halterung zurück und geht ihren Trolley hinter sich herziehend weiter. Ein schlaksiger Jugendlicher mit weiß-roten Adidas-Schuhen und einer dunkelbraunen Lederkappe wird von dem Security-Guard vor dem Drehkreuz aufgehalten. Ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, dreht der Jugendliche um und geht in Richtung der Rolltreppe davon. Vor dem Geländer, das die Rolltreppe auf einer Seite umgibt, nimmt ein anderer junger Mann eine Zigarette aus der Packung, zündet sie an und reicht sie seiner Freundin. Während sie die Zigarette mit ihren Lippen entgegen nimmt, holt sie ihrerseits eine Zigarette aus ihrer Packung, zündet sie an und gibt sie ihm. Er nimmt die Zigarette, inhaliert den Rauch und schlingt die Arme um seine Freundin. Ein Mann in einem gelben Overall und einer beige Strickmütze entleert die an der Wand stehenden Aschenbecher. Dabei kippt er den Sand in einen schwarzen Plastiksack, den er auf dem Boden hinter sich herzieht. Während er von Aschenbecher zu Aschenbecher geht, spielt er mit seinem Mobiltelefon. Auf dem Rücken der Jacke des Security-Guard steht mit dicken, weißen Buchstaben das Wort „Security“. Unter seiner Jacke trägt er ein weißes Hemd mit einer schwarzen Krawatte. Er macht einen Schritt nach vor und einen Schritt zurück, wieder einen Schritt nach vor und einen zurück. Dann beugt er sich weit nach vor und berührt einmal kurz mit den Fingerspitzen den Boden, wie um sich zu vergewissern, dass der Boden noch da ist. JA, DER BODEN IST NOCH DA.
Vor einem riesigen Ventilator mitten in der Halle flattern bunte Papierstreifen. In den Lautsprecherboxen ertönt die Nummer 1 der Hitparade. Ein kleines, blondes Mädchen tanzt dazu, bis es von seiner Mutter weitergezogen wird. Die beiden Männer der Reinigungsfirma schieben ihren Wagen langsam durch die Halle und bleiben schließlich stehen, um mit einem kurzen Besen und einer Schaufel auf dem Boden verstreute Pommes frites und einen McDonald’s-Coca-Cola-Becher einzusammeln. Am Info-desk sortiert ein Mann die dort aufliegenden Stapel von Informationsbroschüren. Er nimmt einen Stapel, klopft ihn mit der Hand zurecht, so dass die Broschüren exakt übereinander liegen, und legt ihn wieder auf den dafür vorgesehenen Platz zurück. Der grauhaarige Mann, der für die neue American-Express-Karte wirbt, hält den Vorbeigehenden eine Kreditkarte entgegen. Genau in Augenhöhe. Dabei geht er jedes Mal einige Schritte vor und wieder zurück. Während er die Kreditkarte mit seiner rechten Hand hält, frisiert er mit der anderen Hand seine Haare. ALLES PERFEKT.
Drei Männer, die russisch sprechen und alle telefonieren, setzen sich an einen Tisch und bestellen einen Espresso, ein Mineralwasser und ein Cola light. Nach einer Weile setzt sich ein vierter Mann dazu. Sie begrüßen sich per Handschlag und ohne dabei aufzuhören zu telefonieren. Alle vier tragen die gleiche dunkelbraune Lederjacke und alle vier besitzen eine glänzend schwarze Herrenhandtasche. Ein Mädchen mit kurzen, nur wenige Millimeter langen, schwarz gefärbten Haaren sagt zu ihrer neben ihr gehenden Freundin: „Lass dich nicht fertig machen.“ Und später noch einmal, jetzt lauter: „Lass dich nicht fertig machen.“ Die alte Frau mit dem Trolley kehrt noch einmal ins Café zurück und studiert noch einmal die Getränkekarte. Aber sie steckt sie wieder in die Halterung auf dem Tisch zurück und geht ihren Trolley hinter sich herziehend weiter. Eine auffallend große Frau mit blonden Haaren in einem T-Shirt mit Leopardenfellmuster und mit einer kleinen roten Handtasche mit weißen Riemen und der gleichaltrige Mann in einem schwarzen T-Shirt und einer schwarzen Lederhose können sich lange nicht entscheiden, an welchen Tisch sie sich setzen sollen. Sie setzen sich und stehen wieder auf und setzen sich an einen anderen Tisch. Später sagt die Frau zu dem Mann, wobei sie ihre Ringe abnimmt und vor sich auf den Tisch legt: „Die gehören mir.“
Ein fünfzigjähriger Mann setzt sich und legt drei Packungen Marlboro übereinandergestapelt auf den Tisch. Er nimmt sich eine Zigarette aus der obersten Schachtel, langsam und behutsam, so dass die unteren beiden Schachteln nicht verrutschen. Er zündet die Zigarette an und stellt dann das Zippo-Feuerzeug neben den Stapel Zigarettenpackungen. Der Security-Guard winkt ein sechzehnjähriges Mädchen zu sich und fordert es auf, ihm den Inhalt ihrer Tasche zu zeigen. Das Mädchen öffnet den Reißverschluss der Nike-Tasche und hält ihm die geöffnete Tasche hin. Der Security-Guard nickt und das Mädchen passiert mit Schwung das Drehkreuz.
Auf den Computerbildschirmen im Elektronik-Shop erscheint ein strahlend blauer Himmel mit Schäfchenwolken. Auf den Wellen der Rolltreppe tanzen Möwen. In den Lautsprecherboxen ertönt die Stimme eines Nachrichtensprechers. DU KANNST TUN, WAS DU WILLST, SO LANGE DU DEINE SCHULDEN BEZAHLEN KANNST. In der Mitte der Halle zeigt ein Junge nach oben, zum Glasdach hinauf. Seine Eltern knien sich zu ihm, können aber da oben nichts erkennen. Zwei sechzehnjährige Mädchen setzen sich an einen Tisch und bestellen einen Erdbeershake und einen Bananenshake. Ihre Schultaschen legen sie auf den Stuhl daneben. Der Kellner bringt die Getränke in großen, bauchigen Gläsern. Er stellt den Erdbeershake und den Bananenshake auf den Tisch und stopft den Kassenbon in das kleine, dafür vorgesehene Glas. Die beiden Mädchen nehmen sich ihre Shakes und trinken sie mit einem dicken, blauen Strohhalm. Dann holen sie ihre Hefte und Bücher heraus und beginnen, ihre Hausaufgaben zu machen. Eine junge Frau mit kurzen schwarzen Haaren und einer eckigen roten Brille setzt sich an den letzten Tisch in der zweiten Reihe. Als erstes legt sie ihren Laptop auf den Tisch, auf den Laptop legt sie ihren Terminkalender, auf den Terminkalender ihre Geldbörse, auf die Geldbörse die Zigarettenschachtel und auf die Zigarettenschachtel ihr Telefon. Ein vierzigjähriger, hagerer Mann geht mit weit ausholenden Schritten durch die Halle. Er rudert mit den Armen und übersteigt unsichtbare Hindernisse. Eine ältere, grauhaarige Frau unterhält sich mit ihrer Schwiegertochter über ihren Sohn. Dabei sagt sie immer wieder: „Man kann nur hoffen, dass ihm mit dem neuen Auto nichts passiert.“ Als der Mann und die Frau zahlen, zahlt sie für beide, aber er will ihr unbedingt das Geld für seinen Espresso geben. Er zählt die Münzen ab und hält sie ihr hin, aber sie schiebt seine Hand zurück. Dabei sagt sie: „Lass es mich bitte bezahlen. Ich will es bezahlen.“ Der Security-Guard macht einen Schritt nach vor und einen Schritt zurück, nochmals einen Schritt nach vor und einen zurück. Er streckt die Arme durch und beugt den Oberkörper vor. Dann kreist er den Kopf und die Schultern. Ganz so, als wollte er prüfen, ob der Körper noch funktioniert. Ein Mann in einer weißen Jeans und einem weißen T-Shirt mit einer Kette aus braunen und weißen Holzkügelchen um den Hals hat sich ein neues Mobiltelefon gekauft. Die Schachtel mit der Abbildung des Telefons liegt in einem durchsichtigen Plastiksack auf dem Tisch. Später holt er sein anderes, zweites Telefon aus seiner Hosentasche und ruft seinen Vater an. Er sagt: „Ich wollte mich nur melden, weil es so ausgemacht war. Bei mir ist alles in Ordnung.“
Der Dia-Projektor wirft das riesige Bild eines Sonnenblumenfeldes an die Wand. Vor dem Ventilator flattern rote, grüne, gelbe und blaue Papierstreifen. Die Palmen am Strand biegen sich im Wind. In den Lautsprecherboxen ertönt die sanfte Stimme einer Frau, die alle Kinder und ihre Eltern jetzt zum Kindertheater in die obere Ebene bittet. Eine fünfundzwanzigjährige Frau in einem gelben Kleid und schwarzen Schuhen mit hohen Absätzen beugt sich zu ihrem Kind in den Kinderwagen. Dabei hält sie ihre Bierdose mit ausgestrecktem Arm weit vom Kinderwagen weg, damit das Kind die Dose nicht sehen kann. Eine junge Japanerin mit einem roten Halstuch und einem winzigen Louis-Vuitton-Rucksack lässt sich von ihrem Freund vor dem Geländer bei der Rolltreppe fotografieren. Dann packt sie den Fotoapparat wieder in den Rucksack und beide fahren mit der Rolltreppe ins Untergeschoß. Auf der Rolltreppe geben sie sich einen langen Kuss. Ein vierzigjähriger, aber schon weißhaariger Mann setzt sich, nimmt seinen Laptop aus der Tasche und bestellt sich einen koffeinfreien Espresso. Er trägt ein weißes Hemd und statt einer Krawatte ein Lederbändchen. Kurze Zeit später setzt sich ein zweiter Mann dazu. Im Moment des Niedersetzens überreicht er dem ersten seine Visitenkarte. Auch er legt seinen Laptop auf den Tisch, und während er den Laptop startet, sagt er zum anderen: „Wir können uns nicht aussuchen, mit wem wir zusammenarbeiten.“ Eine junge Frau sagt zu ihrer Freundin, mit der sie sich getroffen hat, um mit ihr ein Glas Sekt auf ihren Geburtstag zu trinken: „Es war ein gutes Jahr und ich wünsche mir, dass das nächste Jahr genau so gut wird.“ Ihre Freundin gibt ihr später, nachdem sie ein zweites Glas Sekt bestellt haben, ihr Geburtstagsgeschenk. Es ist ein in einer kleinen blauen Schachtel verpacktes silbernes Kreuz. Zwei Männer, einer in einem dunklen, dreiteiligen Anzug, der andere in einem helleren Anzug mit einem dunkelblauen Hemd und einer gelben Krawatte, unterhalten sich über Personalstruktur und Zeithorizonte. Einer der beiden sagt: „Zweitausendsechzehn, zweitausendachtzehn, zweitausendzwanzig.“ Eine Frau in einem Kostüm mit einem Namensschildchen am Revers sagt zu ihrer Arbeitskollegin: „Auf dem Parkplatz vor dem Kino hat Paul jemandem einen Platz direkt vor der Nase weggeschnappt. Als wir aussteigen wollten, steht der auf einmal vor der Fahrertür und schlägt ohne etwas zu sagen mit der Faust ins Auto herein.“
Die alte Frau mit dem Trolley geht durch die Tischreihen des Cafés, setzt sich an einen Tisch, steht aber sofort wieder auf, geht dann auf den Kellner zu und fragt ihn nach der Toilette. Drei Frauen setzen sich an einen Tisch, stellen ihre Einkaufstaschen alle auf denselben Stuhl und bestellen drei Gläser Weißwein. Eine von ihnen trägt eine helle Jeans, die an den Oberschenkeln mit Strass besetzt ist, ein dunkelblaues, mit Blumenornamenten bedrucktes Shirt und eine Jeansjacke mit einem Pelzkragen, dazu einen rosa Lippenstift und schwarz lackierte Fingernägel. Sie sagt: „Zuerst haben wir Sekt getrunken, dann Bier, dann hat Marius Cocktails gemixt, dann habe ich Wodka getrunken, und dann habe ich etwas getrunken, das ich gar nicht gekannt habe.“ Eine der Freundinnen antwortet darauf: „Manchmal geht eine Beziehung eben so aus.“
Eine Gruppe von Kindern läuft laut schreiend durch die Halle. Jedes der Kinder hält einen rosa Luftballon in der Hand. Auf den Ballons leuchtet das Logo eines Mobilfunkbetreibers. Als eines der Kinder seinen Ballon loslässt, steigt der Ballon bis zum Glasdach der Halle hinauf. Das Mädchen läuft daraufhin zurück zu dem Stand mit dem rosa Sonnenschirm, um einen neuen Ballon zu holen. Eine Frau in einem rosa T-Shirt mit dem Logo des Mobilfunkbetreibers füllt mit einem zischenden Geräusch das Gas in den Ballon. Der grauhaarige Mann, der für die neue American-Express-Karte wirbt, holt hinter der blauen Tonne einen Klappsessel hervor und setzt sich. Er dreht sich mit dem Rücken zur Halle, um ungestört ein Sandwich verzehren zu können. Seine Kollegin öffnet eine Flasche Multivitaminsaft und gießt für sie beide einen Becher ein. Eine junge, dunkelhaarige Frau sagt zu dem älteren ihr mit verschränkten Armen gegenübersitzenden Mann: „Lach doch mal so wie auf dem Foto.“ Und später: „Letztes Jahr habe ich einen Freund gehabt, aber es war nichts Richtiges.“ Eine andere junge Frau, die ein bauchfreies T-Shirt trägt und ein piercing im Nabel hat, wartet im Café „Roma“ auf ihren Freund. Als er schließlich erscheint, geben sie sich zur Begrüßung einen Kuss. Sie zündet sich eine Zigarette an und überreicht ihm das Geschenk, das sie ihm mitgebracht hat. Es ist ein Rubbellos. Zwei junge Männer starren auf ihre vor ihnen auf dem Tisch liegenden Telefone und warten darauf, dass sie läuten. Sie trinken ein Cola light und ein Corona Bier. Sie sind beide braun gebrannt und haben einen muskulösen Oberkörper. Zwischen den Knien des einen klemmt ein Plastiksack von H&M. Während er darauf wartet, dass sein Telefon endlich läutet, öffnet er den Plastiksack und sieht sich noch einmal den Schatz an, den er heute zusammengetragen hat.
Eine Frau mit langen schwarzen Haaren nimmt ihr Kind aus dem Kinderwagen und setzt sich mit ihm an einen Tisch in der zweiten Reihe. Sie setzt sich mit dem Rücken zur Halle, um unbeobachtet das Kind stillen zu können. Der Dia-Projektor wirft das Bild eines Mohnblumenfeldes an die Wand. In den Lautsprecherboxen ertönen die größten Hits der Sechziger Jahren. Am Horizont erscheinen Segelschiffe. CHRISTOPH KOLUMBUS TRIFFT IN AMERIKA EIN UND ERSCHLIESST EUROPA EINEN NEUEN MARKT.
Der Mann, der für die American-Express-Karte wirbt, bietet seiner Kollegin aus einer zitronengelben Packung Bonbons an. Sie greift danach ohne dabei die Vorbeigehenden aus den Augen zu lassen. Fragend ruft sie „American Express, American Express“ und hält allen mit ausgestrecktem Arm die neue Kreditkarte entgegen. Einer der zwei dreißigjährigen Männer am Tisch sagt: „Ich will mit den personenbezogenen Daten machen können, was ich will. Das Projekt ist inhaltlich uninteressant, aber technisch würde es mich reizen.“ Zwei Freundinnen küssen sich, als sie sich treffen, drei Mal auf die Wange. Sie rauchen selbstgedrehte Zigaretten und eine von ihnen besitzt ein Feuerzeug in Form eines Leuchtturms. Ein Telefon läutet, und ein Mann in kurzen Hosen sagt: „Ich bin da. Komm, wann du willst. Dann gehen wir zusammen und schauen, was es kostet.“ Einer der beiden Männer von der Reinigungsfirma geht zu einem der an der Wand stehenden schwarz-silbernen Aschenbecher und drückt dort die Zigarette aus, die ein Passant zuvor nur hineingeworfen hat. Eine dreißigjährige Frau mit kurzen orange gefärbten Haaren in einem orangefarbenen Pullover und einer orangefarbenen ärmellosen Jacke erzählt dem ihr gegenübersitzenden und ihr aufmerksam zuhörenden Mann von ihrer Urlaubsreise nach Chicago. Sie sagt: „Der Hinflug war ein Horror und der Rückflug war ein Horror. Die ganze Reise war ein Horror, und ich bin froh, dass ich es nicht bezahlt habe. Ich bin froh, dass er alles bezahlt hat.“ Zwei Männer gehen aufeinander zu und einer drückt dem anderen ohne ein Wort zu sagen sein Telefon in die Hand, das derjenige auch augenblicklich an sein Ohr hält. Ein alter, kahlköpfiger Mann mit nacktem Oberkörper in einer weißen Latzhose und braunen Filzschuhen schiebt langsam einen leeren Einkaufswagen durch die Halle. Zwei Sechzehnjährige gehen an ihm vorbei und werfen eine leere Coca Cola-Dose in den Wagen, als wollten sie sagen, SELBER SCHULD. Zwei Verkäuferinnen eines Kleidershops bestellen ein Tonic und ein Red Bull, ein Käsesandwich und eine Waldbeerentorte. Eine der beiden sagt: „Sie ist Stammkundin. Sie hat siebentausendvierhundert minus. Aber das ist ihr egal.“ Eine Freundin winkt ihnen im Vorbeigehen zu. Sie winkt mit einer durchsichtigen Plastikbox mit einem asiatischen Nudelgericht. Auf dem Rücken ihres roten, langärmeligen Shirts steht der Schriftzug „Sisley“. Im Café sagt eine Frau zu ihrer Freundin: „Wenn ich nicht zufällig das Telefon abgehoben hätte, hätte ich wahrscheinlich nie erfahren, dass er über zweihunderttausend Schulden hat. Meiner Mutter kann ich das nicht sagen und meiner Schwester auch nicht.“ WER OHNE SCHULDEN IST, WERFE ALS ERSTER EINEN STEIN.
Eine achtzigjährige Frau geht langsam auf ihre Gehhilfe gestützt auf einen Tisch zu. Sie setzt sich und legt eine weiße, mit einem Blumenornament bedruckte Zigarettenpackung mit zwölf Zentimeter langen Zigaretten auf den Tisch. Sie bestellt beim Kellner auf italienisch einen Cappuccino und ein Tiramisu. Sie nimmt sich eine der zwölf Zentimeter langen Zigaretten und lässt sich vom Kellner Feuer geben. Sie bedankt sich dafür wiederum auf italienisch. Auf der Toilette in der unteren Ebene schreit der Geschäftsführer des McDonald’s vor einer der versperrten Toilettentüren: „Ich weiß, dass du da drinnen bist. Du bist jetzt schon mehr als eine halbe Stunde da drinnen.“ Bei der Rolltreppe bellt plötzlich und durchdringend laut ein Hund. Das heißere Gebell erfüllt die ganze Halle. Sofort schlägt die Besitzerin dem Hund mit der flachen Hand auf den Rücken, aber der Hund hört nicht auf zu bellen. Zwei Jugendliche kommen in Begleitung ihrer Mütter aus dem Elektronik-Shop. Sie tragen jeder die neue Spielkonsole in der Hand. Sie gehen nebeneinander im Gleichschritt und halten ihre Schachtel mit beiden Händen. Die junge Frau, die sich mit ihrer Mutter im Café verabredet hat, trägt einen türkisfarbenen, kurzärmeligen Pullover, eine Jeans und weiße Turnschuhe. Sie weint und knetet ein Taschentuch. Ihre Mutter nimmt unter dem Tisch ihre Hände. Sie streicht ihrer Tochter über die Haare. Aber das hilft alles nichts. In der Mitte der Halle steht ein blonder kleiner Junge auf einem Bein und versucht mit den Armen rudernd so lange wie möglich das Gleichgewicht zu halten. Dann läuft er mit ausgebreiteten Armen ein Flugzeug imitierend zu seiner Mutter. Ein sehr dicker, dreißigjähriger Mann mit einer Glatze, mehreren piercings in beiden Augenbrauen und einem tätowierten Stacheldraht auf dem rechten Oberarm sagt zu seinen beiden Geschäftspartnern: „Ihr müsst mich verstehen. Ich will wissen, wo der Rest ist.“ Und nach einer kurzen Pause sagt er es lauter und eindringlicher noch einmal: „Ich will wissen, wo der Rest ist.“
Auf den Computerbildschirmen im Elektronik-Shop erscheint wieder das Sonnenblumenfeld. Die Wellen der Rolltreppe schlagen ans Ufer. In den Lautsprecherboxen ertönt das Gekreisch von Möwen. Die roten und grünen Papierstreifen flattern im Wind. WO IST DAS GANZE GELD? WO IST ES GEBLIEBEN? Der grauhaarige Mann, der für die American-Express-Karte wirbt, hat einen Kunden gewonnen. Er steht mit dem neuen American-Express-Kunden vor der blauen Tonne und füllt das Bestellformular aus. Nachdem er damit fertig ist, überreicht er dem Kunden eine Kopie des Formulars, schüttelt ihm die Hand und nimmt dann wieder seine Position ein. Die alte Frau mit dem Trolley stellt sich an das Geländer bei der Rolltreppe. Nach einer Weile setzt sie sich auf den Trolley, lehnt sich mit dem Rücken an das Geländer und schließt die Augen. Eine junge Frau in einer kurzen, schwarzen, eng anliegenden Hose und einem rot-schwarzen Nike-T-Shirt trägt ihr Fahrrad auf der Schulter durch die Halle. Einer der Männer von der Reinigungsfirma schiebt sein Bodentuch an einem langen Stab vor sich her. Eine Frau in einem grünen Pullover und einem langen, schwarzen Schal setzt sich und legt einen Stapel von drei Zigarettenpackungen auf den Tisch. Eine Packung Marlboro, eine Packung Camel und eine Packung Philip Morris. Sie legt ihr Feuerzeug und ihr Telefon daneben und schiebt nun diesen Haufen immer wieder einmal auf die linke, einmal auf die rechte Seite des Tisches, einmal nach links, einmal nach rechts. Ein Zwanzigjähriger in einer braunen Hose mit Schenkeltaschen, neuen, blauen Puma-Turnschuhen und einer dunkelgrünen Jacke, auf deren Rücken mit großen weißen Buchstaben „drunk“ geschrieben steht, geht mit federnden Schritten durch die Tischreihen des Cafés und bettelt um Münzen. Zwei sechzehnjährige Mädchen haben sich bei H&M den gleichen Pullover gekauft. Eine fünfundzwanzigjährige Frau sagt zu ihrer, ihr gegenübersitzenden Freundin: „Meine Schwester lässt sich jetzt endlich scheiden. Aber seine Familie will alle Geschenke zurück, die Ringe, die Armreifen, die Uhr, den ganzen Schmuck.“
Der Projektor wirft wieder das Bild des strahlend blauen Himmels mit den Schäfchenwolken an die Wand. In den Lautsprecherboxen singt ein Chor. Die Wellen rollen an den Strand und wieder zurück. Im Sand liegen Muscheln und Seesterne. Die grünen, blauen und roten Fahnen flattern im Wind. Eine der beiden Schwestern, die die gleichen schulterlangen braunen Haare haben und beide eine rechteckige Brille tragen, sagt: „Du bist älter als ich. Du bist verheiratet und du hast Kinder. Du bist mental viel stärker als ich. Zerstör mir meine Illusionen nicht.“ Ein dicker Mann in einem grün gefleckten Tarnanzug und blau-weißen Adidas-Schuhen filmt mit einer kleinen Videokamera seine Freundin, die den gleichen grün gefleckten Tarnanzug trägt. Er filmt sie dabei, wie sie eine Postkarte schreibt und ein Stück Torte isst. Zwei Frauen tragen zusammen eine große Schachtel durch die Halle. Die Schachtel ist glänzend rot und trägt weder einen Schriftzug noch eine Abbildung. Vor der Rolltreppe setzen sie die Schachtel ab und ruhen sich eine Zeit lang aus. Dann nehmen sie die Schachtel wieder auf, heben sie über den Kopf und fahren so die Rolltreppe hinunter. Ein Mann mit einem weißen Kinnbart in einem grünen Rollkragenpullover und einer glänzend schwarzen Lederjacke sitzt zusammengesunken auf seinem Stuhl und spielt mit seinem Telefon. Er starrt auf das Display, bis eine Frauenstimme „Wassily“ ruft. Augenblicklich steht er auf, nimmt die Einkaufstaschen und geht zu der außerhalb der Tischreihen wartenden Frau. Eine fünfzigjährige Frau hat sich im Café mit einem jungen Mann in einer hellbraunen Cord-Jacke verabredet, um Euro-Münzen zu tauschen. Jeder von ihnen hat seine Münzen in einem kleinen, durchsichtigen Plastiksack mitgebracht. Sie halten die Münzen gegen das Licht, um sie auf Fehler zu untersuchen. Die Frau sagt: „Ich will welche vom Vatikan, von Portugal und von Belgien. Die anderen interessieren mich nicht.“ Am Nebentisch führt ein Mann seine Zigarette mit einer großen Ausholbewegung zum Mund, so als würde er dabei jemanden umarmen. Das sechzehnjährige Mädchen trägt ein hellblaues Shirt mit langen Ärmeln und einer Kapuze. Sie hat kurze, rote Haare und trägt an jedem Finger einen Ring. Sie hat sich hier mit ihrer Mutter verabredet, und als ihre Mutter endlich kommt, geht sie ihr einige Schritte entgegen, nimmt ihr die Einkaufstasche aus der Hand und sieht nach, was ihre Mutter eingekauft hat. Als sie einander dann gegenübersitzen, zeigt die Tochter der Mutter ihr neues Tattoo auf ihrem rechten Oberarm. Ein Mann mit einer Bierdose in der linken und einer Bierdose in der rechten Hand stolpert über die letzten Stufen der Rolltreppe. Er verliert das Gleichgewicht und die zwei Dosen rollen mit einem hellen, scheppernden Geräusch über die Treppe hinunter. Der kahlköpfige Mann bleibt lange Zeit auf dem Boden sitzen, unfähig, sich allein wieder aufzurichten.
Die alte Frau mit dem Trolley setzt sich an den am weitesten abseits stehenden Tisch des Cafés. Sie nimmt die Getränkekarte aus der Halterung und faltet sie auf. Als der Kellner schließlich an den Tisch kommt, bestellt sie sich ein Käsesandwich und ein Glas Wasser. Der weißhaarige Mann, der für die neue American-Express-Karte wirbt, holt hinter der Tonne seinen Klappsessel hervor und setzt sich damit unter den blauen Sonnenschirm. Seine Kollegin hält noch immer den Vorbeigehenden die neue Karte hin und ruft dabei „American Express, American Express“. Der Mann lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tonne und schließt die Augen. Der Security-Guard steckt seine Kappe in die Schenkeltasche seiner Hose, kontrolliert noch einmal sein Sprechfunkgerät, frisiert sich mit beiden Händen die Haare, winkt einem Verkäufer im Elektronik-Shop zu und geht dann in Richtung der Rolltreppe, um in die untere Ebene zu fahren. Als er einige Zeit später zurückkehrt, trinkt er im Gehen eine Dose Sprite. In der Mitte der Halle bleibt er unvermittelt stehen und sieht nach oben, zum Glasdach hinauf, als erhielte er von dort oben Befehle. ES GIBT KEINE BEFEHLE VON OBEN.
Die Frau im Café „Roma“ zündet sich wieder eine Zigarette an. Der kleine silberfarbene Delphin im rechten Nasenflügel glitzert im Licht des Scheinwerfers über ihr. Die Frau nimmt ihr Telefon in die Hand. Zu ihrem Gesprächspartner am Telefon sagt sie: „Ich muss woanders hin. Es ist mir egal, was es kostet. Ich muss wieder dorthin, wo ich hingehöre. Hier habe ich keine Zukunft. Aber ich weiß, dass mir das Geld dafür fehlt. Für einen Neustart fehlt mir das Geld. Auch wenn ich mir das Herz herausschneiden würde, würde das die Situation nicht ändern. Ich kann nicht zaubern. Wünsch mir bitte Glück.“