Müllinsel der Seligen
© Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor
Im pazifischen Ozean treibt eine riesige Müllinsel. Je nach Wind- und Strömungsverhältnissen nimmt sie unterschiedliche Formen an. Vor kurzem haben Wissenschaftler*innen auf Satellitenbildern entdeckt, dass die Umrisse dieser Müllinsel der Form des Staates Österreich entsprechen.
Zur selben Zeit wurde bekannt, dass ein österreichisches Entsorgungsunternehmen illegal Plastikmüll nach Asien exportiert hat. Nachdem Greenpeace den Skandal aufgedeckt hat, muss die Firma jetzt auf Anordnung des österreichischen Klimaschutzministeriums den Müll zurückholen.
Vier Mitarbeiter*innen der Firma waten durch den Müll. Immer wieder heben sie einen Gegenstand auf, betrachten ihn, überlegen, ob er aus Österreich stammen könnte oder nicht, und stecken ihn dann in einen Sack oder werfen ihn zurück auf den Müll.
B: Zwölf Stunden im Flugzeug.
A: Um ans andere Ende der Welt zu fliegen.
C: Als ginge es um den Weltuntergang.
D: Das ist eindeutig nicht der Weltuntergang.
A: Ich habe schon viel Schlimmeres gesehen.
B: Wer regt sich noch über eine Müllinsel auf.
D: Ich hätte heute meinen freien Tag. Eigentlich wollte ich heute in den Wienerwald fahren.
C: Im Wienerwald wäre ich jetzt auch gern.
A: Lieber als in Malaysia.
B: Der ganze Abfall stammt nicht von uns.
C: So viel haben wir nicht hierher geschickt. Das weiß ich.
D: Das gehört nicht alles uns.
B: So viel wäre logistisch gar nicht möglich gewesen.
A: Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir so viel Abfall hierher geschickt haben.
C: Das waren auch nicht wir. Da bin ich mir sicher.
D: Haben wir das verbrochen? Nein. Dürfen wir es wieder gutmachen? Ja.
B: Haben wir die Welt an den Abgrund geführt? Sind wir schuld, dass sie jetzt dort steht?
C: Wegen ein bisschen Müll steht die Welt nicht gleich am Abgrund.
A: Das ist nicht alles unser Abfall.
C: Aber wir müssen ihn jetzt zurückholen.
B: Und warum? Weil wir uns alles gefallen lassen.
D: Weil wir immer zu allem ja sagen.
C: Wir sind viel zu gutmütig. Oder nicht?
B: Was auch immer von uns verlangt wird, wir tun es bereitwillig.
A: Es steht überhaupt nicht fest, dass wir das waren. Das ist eine aus der Luft gegriffene Behauptung.
D: Es ist eine Lüge.
C: Ich habe keine Lust, mich ständig verteidigen zu müssen. Ich will nicht ständig den Dreck von mir abwaschen müssen.
B: Immer sind wir es gewesen.
D: Wenn jemand seine Hand hebt, weiß ich schon, dass er gleich auf uns zeigt.
A: Wir sind schuld daran, weil wir immer an allem schuld sind. Wir sind ja auch schon gewöhnt daran, an allem schuld zu sein.
B: So wie damals.
D: Wann damals?
B: Damals. Du weißt genau, was ich meine.
D: Damals war ich noch nicht auf der Welt.
A: Jedes Mal sind wir die Schuldigen.
B: Egal, was passiert ist, schuld daran sind wir.
C: Wir sind ein kleines Land.
D: Ein kleines Land mit einer schwachen Stimme.
A: Wer hört schon auf so eine Stimme.
B: Wir sind ein kleines Land mit einer großen Vergangenheit.
C: Was haben wir von der großen Vergangenheit?
D: Wir sind ein kleines Land mit einer dunklen Vergangenheit.
B: Mit einer dunklen Vergangenheit, in der niemand das Licht einschalten will.
A: Wir sind eben ein kleines Land.
C: Ein kleines Land mit vielen Touristen.
D: Weit und breit nur Vergangenheit.
B: Und Touristen.
Eine/r der vier bückt sich, hebt einen Gegenstand auf und hält ihn in die Höhe.
A: Was ist das? Sieht aus wie ein Wiener Schnitzel.
B: Das ist kein Wiener Schnitzel.
A: Sieht aus wie ein in Plastikfolie verpacktes Schnitzel.
C: Das stammt nicht von uns.
D: Das stammt aus China. Das sehe ich sofort. Ich erkenne ein Wiener Schnitzel aus China.
A: Ich glaube nicht, dass man das noch essen kann.
B: Schau auf das Ablaufdatum.
A: Es ist unleserlich.
Der Gegenstand wird zurück zum anderen Müll geworfen.
A: Die Österreicher wollen Wachstum und immer noch mehr Wachstum, aber kosten darf das Wachstum nichts.
B: Und schmutzig darf es nicht sein.
D: Aus dem Nichts soll es kommen.
C: Wie durch Zauberei soll es entstehen.
A: Am liebsten würden alle die Augen schließen, damit sie nicht sehen müssen, woher das Wachstum kommt.
B: Von irgendwo her wird es schon kommen, das braucht man nicht so genau zu wissen.
D: Hauptsache man spürt es, wenn es da ist. In der Brieftasche will man es spüren.
A: Die Österreicher hätten gern ein permanentes Wirtschaftswunder. So wie damals.
D: Wann damals?
C: Damals.
D: Daran kann ich mich nicht erinnern.
B: Am liebsten hätten die Österreicher ein tausendjähriges Wirtschaftswunder.
A: Sauber muss das Wirtschaftswunder sein.
C: Sauber wie die Kärntner Seen.
D: Klar wie das Wasser aus den Hohen Tauern.
A: Die Österreicher wünschen sich Wohlstand, aber nicht auf Kosten Österreichs.
B: Je mehr Wohlstand, desto besser.
D: Aber nicht auf Kosten des Attersees.
C: Nicht auf Kosten des Großglockners.
D: Nicht auf Kosten der Krimmler Wasserfälle.
B: Der Wohlstand darf nichts kosten.
C: Einen teuren Wohlstand kann sich niemand leisten.
A: Jeder weiß, dass der Wohlstand nicht billig ist. Wer Wohlstand haben will, muss tief in die Tasche greifen.
B: Das ist die Kostenwahrheit. Aber die Kostenwahrheit ist den Österreichern nicht zumutbar.
Eine/r der vier bückt sich, hebt einen Gegenstand auf und hält ihn in die Höhe.
D: Das ist eine Mozartkugel.
C: So große Mozartkugeln gibt es nicht.
A: Und? Stammt sie aus Salzburg?
B: Nein. Aus der Schweiz.
C: Schon wieder.
D: Wie machen das die Schweizer?
A: Das ist ihr Bankgeheimnis.
Der Gegenstand wird zurück zum anderen Müll geworfen.
A: Die Österreicher wollen immer etwas haben, aber nichts dafür tun.
C: Die Salzburger zum Beispiel wollen immer steigende Löhne.
D: Und die Tiroler wollen immer stabile Preise.
B: Die Steirer wollen eine Lohnrunde nach der anderen.
A: Stimmt. Die Steirer können von den Lohnrunden nie genug bekommen.
C: Die Niederösterreicher wollen hohe Sparbuchzinsen.
D: Die Kärntner wollen sich jedes Jahr mehr leisten können.
B: Die Burgenländer wollen sich etwas zur Seite legen.
C: Die Oberösterreicher wollen so früh wie möglich in Pension gehen.
D: Die Vorarlberger wollen sich ein Haus bauen können. Ein schöneres als ihre Nachbarn in der Schweiz.
A: Die Wiener wollen auch immer irgendwas. Die Wiener sind mit überhaupt nichts zufrieden.
B: Die Österreicher wollen immer anständig sein.
C: Jeder behauptet, nicht korrupt zu sein.
A: Korruption gibt es nicht.
D: Das lernen schon die Kinder in der Schule.
A: Dabei sind wir auf Korruption angewiesen.
B: Österreich ist ein kleines Land. Ein kleines Land ist auf Korruption angewiesen.
D: Ein kleines Land wird nur durch Korruption ein bisschen größer.
Eine/r der vier bückt sich, hebt einen Gegenstand auf und hält ihn in die Höhe.
C: Das ist ein Red Bull.
D: Unglaublich. Ein echtes Red Bull.
C: Das hat eine lange Reise hinter sich.
A: Ist die Dose noch voll?
B: Ich habe schon den ganzen Tag Lust auf ein Red Bull. Die ganze Zeit habe ich gedacht, das Schönste auf der Welt wäre, jetzt ein Red Bull zu trinken.
D: Wir teilen es uns.
A: Wir teilen es gerecht.
C: Gut. Aber ich habe es gefunden. Ich bekomme mehr.
Eine/r der vier reißt die Dose auf. Eine/r nach der/dem anderen trinkt einen Schluck. Die leere Dose wird zum Müll geworfen.
A: Österreich ist einfach zu klein, um den eigenen Müll im eigenen Land zu entsorgen.
D: Der Altausseer See ist zu klein, um so viel Müll aufzunehmen.
C: Auch die Tscheppaschlucht ist viel zu schmal, um so viel Müll dort zu lagern.
B: Andere Länder haben viel größere Seen und tiefere Schluchten.
D: In anderen Ländern sind die Seen schon schmutzig und verseucht.
A: Die Österreicher hätten gern den saubersten Müll der Welt.
C: Den sichersten Müll der Welt.
B: Den Müll mit der höchsten Lebensqualität.
A: Am liebsten hätten sie gar keinen Müll.
D: Müll passt einfach nicht zu Österreich.
C: Das passt nicht zusammen.
B: Das schädigt den Wirtschaftsstandort.
A: Müll ist kein Tourismusmagnet.
Eine/r der vier bückt sich, hebt einen Gegenstand auf und hält ihn in die Höhe.
D: Das ist eine Pistole.
A: Aus Österreich?
B: Wie kommt eine Pistole hierher?
C: Es ist eine Glock.
B: Eine Glock wollte ich schon immer haben.
D: Die gehört mir. Ich habe sie gefunden.
A: Lasst uns deswegen nicht streiten.
D: Ich habe sie als erster gesehen. Also gehört sie mir.
C: Du kannst die Mozartkugeln haben.
D: Die Mozartkugeln will ich nicht.
Die vier setzen sich und packen ihre Jause aus. Sie wickeln ihre Wurstbrote, den Stangenkäse und die Essiggurkerln aus und werfen das Verpackungspapier hinter sich.
Am Horizont versinkt die Sonne im Müll.
Als es dunkel wird, zündet jede/r eine Kerze an.
B: Ich will nicht ins Gefängnis.
A: Warum solltest du ins Gefängnis müssen?
C: In Österreich kommt man nicht so schnell ins Gefängnis.
B: Ich habe nichts getan.
D: Niemand muss ins Gefängnis.
B: Ich will nicht ins Gefängnis. Ich habe überhaupt nichts getan. Ich bin unschuldig. Im Gefängnis ist es dunkel. Jeden Morgen muss man die Bundeshymne singen. Und in der Kantine gibt es nie Kartoffelsalat.
A: Keiner von uns muss ins Gefängnis.
B: Ich habe nur das getan, was wir immer tun.
C: Ich habe ein reines Gewissen.
B: Ich war immer anständig.
D: Auch ich war immer anständig. Das kann jeder bestätigen.
B: Ich war immer anständig und ich verstehe nicht, dass es jetzt heißt, ich sei nicht anständig gewesen.
A: Wer behauptet das?
C: Behaupten heißt, nichts beweisen zu können.
A: Ich gebe nichts darauf, was irgendjemand behauptet.
D: Wenn jemand etwas behauptet, höre ich gar nicht hin.
A: Bis jetzt hat das mit Malaysia immer gut geklappt.
C: Genau so wie das mit der Türkei.
D: Auch das mit Serbien ist immer gutgegangen.
C: Wir haben keinen Grund, uns zu beschweren.
A: Ich würde gern wissen, warum es dieses Mal mit Malaysia nicht geklappt hat.
B: Ich bin dafür nicht verantwortlich.
D: Ich auch nicht.
B: Ich habe nur das getan, was von mir verlangt worden ist.
A: Ich habe mir auch nichts vorzuwerfen.
C: Irgendwann passiert eben einmal ein Fehler. Es wird einem ja wohl einmal ein kleiner Fehler passieren dürfen. So ein kleiner Fehler. Nicht einmal so groß wie ein Fingernagel. Darf einem nie ein Fehler passieren?
D: Ein Fehler, und schon wird man an den Pranger gestellt. Schon wird man nicht mehr angeschaut. Schon wird man ausgeschlossen. Schon gehört man nicht mehr dazu. Schon wird man angespuckt.
B: Österreich ist ein sauberes Land, in dem aber manche Menschen wie der letzte Dreck behandelt werden.
A: In Österreich wird einem nicht einmal der kleinste Fehler verziehen.
B: Ich entschuldige mich, auch wenn ich nichts getan habe, für das ich mich entschuldigen müsste. Aber ich entschuldige mich. Dann entschuldige ich mich eben. Ich entschuldige mich. Haben mich alle gehört? Ich habe nichts Unrechtes getan, aber ich nehme alle Schuld auf mich.
C: Sich die ganze Zeit zu entschuldigen, ist das Beste. Auch wenn man nichts getan hat, für das man sich entschuldigen müsste.
D: Von mir aus kann man mir ein Loch ins Herz bohren und in mein Innerstes schauen. Ich habe nichts zu verbergen.
A: Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen.
B: Ich gebe nichts zu, was ich nicht getan habe.
C: Das brauchst du auch nicht.
D: So weit kommt es noch.
B: Ich will nicht ins Gefängnis.
D: Jetzt beruhige dich.
B: Das Gefängnis ist furchtbar.
A: Ich war schon einmal im Gefängnis. Es hat Vorteile und Nachteile. Man muss sich mit den richtigen Menschen darin anfreunden, man muss Freundschaften schließen, dann ist es gar nicht so schlimm.
C: Man muss sich arrangieren. Ich habe mich jedes Mal mit den richtigen Leuten arrangiert.
B: Ich war immer anständig.
C: Wir sind alle anständig.
D: Wir sind immer noch eine anständige Firma.
A: Eine anständige Firma ist eine Firma, die ihre Mitarbeiter anständig bezahlt.
B: Ich habe ein reines Gewissen.
C: Das habe ich auch.
D: Ich kann nachts noch immer ruhig schlafen. Das ist der Beweis. Ich schlafe wie ein Kleinkind.
A: Ich bin immer noch ein guter Mensch. Ihr könnt fragen, wen ihr wollt. Jeder wird sagen, dass ich ehrlich bin.
C: Ich habe nie jemandem bewusst Schaden zugefügt.
D: Ich bin ein herzensguter Mensch.
B: Ich bin ein frommer Mensch.
A: Im Grund genommen ist niemand zu Schaden gekommen. Hat irgendjemand darunter gelitten? Hat irgendjemand einen Nachteil gehabt?
C: Man braucht eben immer einen Schuldigen.
B: Es erwischt immer die Unschuldigen.
D: Es erwischt immer die Kleinen.
A: Es erwischt immer diejenigen, die nichts getan haben.
B: Ich habe wirklich nichts getan. Ich schwöre es. Warum glaubt mir niemand?
C: Ich glaube dir.
D: Und ich vertraue dir.
A: Das Wichtigste ist, dass wir zusammenhalten.
D: Dann kann uns nichts passieren.
C: Das ist alles nur ein Irrtum.
A: Es ist ein hässlicher Traum.
B: Wenn man anständig bleibt, hat man nichts zu befürchten.
C: Wer anständig ist, muss nicht ins Gefängnis.
D: Österreich ist klein, aber anständig. Klein, aber rein. Klein und fein.
Sie halten einander an den Händen.
Wind kommt auf. Er wirbelt Papier und Plastikfolien in die Höhe.
Dann löscht der Wind die Kerzen aus.