Wem gelingt es schon, ein neues Leben zu beginnen, das nicht nach drei Tagen schon aussieht wie das alte. Man müsste alles über Bord und aus der Wohnung werfen, nichts und niemanden mehr wiedererkennen, jeder Atemzug und Wimpernaufschlag müssten sein wie der allererste im Leben. Flora hat bei einer Operation ihr Gedächtnis verloren und als sie aus dem Koma erwacht, findet sie sich in einem tatsächlich neuen Leben wieder. Die identitätsstiftenden Brücken zur Vergangenheit sind abgebrochen. Nun stellt sich für Flora die Frage: Womit soll sie sich in diesem neuen Leben eigentlich identifizieren? Angeblich gibt es kein Ich-Gefühl und keine Selbstbehauptung ohne das Konzept der Identität. Aber Flora weigert sich, sich mit der Wohnungseinrichtung und den Jobaussichten und den Liebesversprechen zu identifizieren, an die wir übrigen so schnell unseren Lebensentwurf hängen. Mit dieser Weigerung stellt sie unsere Sehnsucht nach Identifikation und Identität als unsere größte Schwäche bloß.

 

© S. Fischer Verlag, Aufführungsrechte S. Fischer Verlag Theater & Medien
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Textausschnitt

1

FLORA Ein Tannenzapfen hat eine eindeutige Funktion. Er ist das Fortpflanzungsorgan der Tanne. Er dient dazu, dass sich die Tanne vermehren kann. Er wächst auf den obersten Zweigen am Wipfel. Könnte man einen Tannenzapfen fragen, womit er sich identifiziert, würde er antworten, dass er sich mit den anderen Tannenzapfen an den Zweigen der Tanne identifiziert. Würde man die Tanne fragen, würde sie sagen, dass sie zu den anderen Tannen gehört und ein Teil des Nadelwaldes ist, in dem sie steht. Der Nadelwald identifiziert sich mit allen anderen Nadelwäldern. Der Boden unter dem Wald identifiziert sich mit allen anderen Böden. Die Gräser und Farne am Boden identifizieren sich mit allen anderen Gräsern und Farnen auf der ganzen Erde. Bei den Menschen ist das anders. Sie identifizieren sich nicht mit den anderen Menschen, sondern mit der Firma, in der sie arbeiten, oder mit dem Auto, mit dem sie jeden Morgen in diese Firma fahren, oder mit dem Kostüm oder Anzug, die sie tragen, wenn sie in diesem Auto sitzen. Sie identifizieren sich mit der Karriere, die sie in der Firma machen, oder sie identifizieren sich mit den Gesprächen mit ihrem Therapeuten, wenn sie keine Karriere machen. Um Karriere zu machen, braucht man ein aggressives unternehmerisches Verhalten. Man muss egoistisch sein und sich auf dem Markt behaupten. Man muss kreativ und rebellisch sein. Man darf auf keinen Fall älter werden und darf nie aufhören, gegen den Strom der Zeit zu schwimmen. Man muss den Baum der Erkenntnis suchen und das Tor zum Paradies aufstoßen. Wer das schafft, wird sich am Ende mit einer Firma identifizieren, das heißt, er wird sich mit einem Schreibtischstuhl und einem Kopierer und einer Klimaanlage und einem Kaffeeautomat identifizieren. Wenn mich jemand fragen würde, womit ich mich identifiziere, könnte ich darauf keine Antwort geben. Ich weiß es nicht. Ich spüre nicht, dass ich mich mit irgend etwas identifizieren kann. Aber man kann nicht leben, ohne sich mit etwas zu identifizieren, man kann kein Selbstvertrauen und kein Selbstwertgefühl entwickeln, man kann sich nicht einmal sicher sein, auf dieser Welt überhaupt zu existieren. Die Gesellschaft braucht niemanden, der sich mit nichts identifizieren kann. Früher einmal habe ich mich genau so wie alle anderen mit meiner Firma und meinem anthrazitgrauen Kleinwagen und den Trainerstunden im Fitnessstudio identifiziert. Ich habe ein glückliches Leben geführt und ich hatte einen perfekten Lebenslauf. Jedenfalls erzählen das die anderen. Ich kann mich selbst an das alles nicht erinnern. Ich habe mich einem kleinen kosmetischen Eingriff unterzogen. Ich habe die obere Gesichtshälfte straffen lassen, um bei dem Bewerbungsprozess für einen neuen Job bessere Chancen zu haben. Dieser Eingriff ist eine Routine-Operation, aber aus irgendwelchen Gründen bin ich bei dieser Routine-Operation ins Koma gefallen. Als ich sechs Tage später wieder aufgewacht bin, konnte ich mich an nichts erinnern. Ich leide unter Gedächtnisverlust. Die Ärzte nennen es auch Depersonalisation. Oder Subjektverlust. Als ich im Krankenhaus aufgewacht bin, hatte ich also kein Subjekt mehr und musste den Arzt nach meinem Namen fragen und ob ich Verwandte habe und in welcher Stadt ich wohne. Er hat mir geantwortet, dass ich Flora heiße und mit einem Mann namens Simon verheiratet bin. Dieser Simon hat mich dann tatsächlich auch am nächsten Tag im Krankenhaus besucht. Er hat einen sympathischen Eindruck gemacht. Angeblich sind wir seit zehn Jahren zusammen und führen eine harmonische Ehe. Einen Tag später hat mich auch Juli besucht. Sie ist meine beste Freundin, hat sie mir erklärt. Auch an sie konnte ich mich nicht erinnern. Insgesamt war ich zwei Wochen im Krankenhaus. Aber trotz dieser langen Zeit habe ich noch nicht den Termin für das Bewerbungsgespräch für den neuen Job versäumt. Zu diesem Bewerbungsgespräch werde ich auch gehen. Sonst wäre die Operation ja sinnlos gewesen. Ich habe mich bei einer Firma beworben, die sich mit dem Sammeln von personenbezogenen Daten beschäftigt. Für jemanden, der sein Gedächtnis verloren hat, ist diese Firma jetzt genau der richtige Arbeitsplatz.

2

SIMON Es gibt Menschen, die in jeder Situation wissen, wie man sich in dieser Situation verhalten muss. Sie wissen genau, welche Entscheidung sie treffen müssen. Sie treffen die Entscheidung und bleiben dabei. Sie stoßen die Entscheidung nicht nach einer Stunde wieder um. Ich bewundere solche Menschen. Nichts ist so schwierig, wie eine Entscheidung, die man getroffen hat, nicht wieder in Frage zu stellen. Menschen, die zweifeln, sind furchtbar. Sie sehen einfach nur verzweifelt aus. Niemand will mit verzweifelten Menschen Geschäfte abschließen. Ich habe mir immer vorgenommen, alles richtig zu machen, und das schon beim ersten Anlauf, nicht erst beim hundertsten Versuch. Ich wollte immer die Gewissheit haben, dass das, was ich tue, das Richtige ist. Ich möchte wie ein Fallschirmspringer aus dem Flugzeug springen und dabei die Gewissheit haben, dass mir nichts passieren kann, weil ich davor die richtigen Entscheidungen getroffen habe. Ich besitze eine Werbeagentur und es ist die beste und bekannteste Agentur in der ganzen Stadt. Und das deshalb, weil ich mich immer bemüht habe, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Auch jetzt, wo die Agentur in Schwierigkeiten ist, versuche ich, die richtige Lösung dafür zu finden. Genau so war es mir immer wichtig, die richtigen Entscheidungen zu fällen, was Flora und mich betrifft. Wir waren einmal ein sehr glückliches Paar und ich wollte für immer mit ihr zusammenbleiben. Ich weiß nicht, warum nach ein paar Jahren plötzlich überall dunkle Wolken aufgetaucht sind und über unserer Beziehung ein Gewitter nach dem anderen niedergegangen ist. Ich weiß nicht, warum ich schließlich mit Juli eine Affäre begonnen habe und mich dazu entschlossen habe, mich von Flora scheiden zu lassen. Ich habe Juli versprochen, mich scheiden zu lassen, weil sie mir im Gegenzug versprochen hat, für den neuen Kredit für die Agentur zu bürgen. Ohne diesen Kredit würde ich die Agentur verlieren. Als ich mich endlich dazu entschieden hatte, Flora zu gestehen, dass ich mit Juli ein neues Leben beginnen will, kam der Anruf aus dem Krankenhaus. Als ich Flora im Krankenhaus besucht habe, konnte ich es ihr nicht mehr sagen. Ich habe meine Entscheidung nicht aus einer Laune heraus umgestoßen, sondern weil sich die Bedingungen geändert hatten. Das ist nicht Wankelmütigkeit sondern Mitgefühl. Ich habe versucht, das Richtige zu tun.

3

FLORA Das ist also unser Haus. Ich kann mich an nichts hier erinnern.

SIMON Setz dich deshalb nicht unter Druck. Die Ärzte haben gesagt, es wird noch ein paar Tage dauern, bis du wieder so bist, wie du früher gewesen bist.

FLORA Haben wir diese Möbel gekauft?

SIMON Ja.

FLORA Du oder ich?

SIMON Wir beide zusammen.

FLORA Wir sind in ein Einrichtungshaus gegangen und haben uns diese Möbel ausgesucht?

SIMON Warum fragst du mich das?

FLORA Diese Möbel sehen eigenartig aus.

SIMON Was ist daran eigenartig?

FLORA Hier leben wir also.

SIMON Ja.

FLORA Das kommt mir alles so fremd vor.

SIMON Selbstverständlich kommt dir dieser Raum fremd vor. Aber setz dich deshalb nicht unter Druck.

FLORA Ich wollte dich damit nicht kränken.

SIMON Das kränkt mich nicht. So ein Gefühl ist in deiner Situation ganz verständlich.

FLORA Hier bin ich also jeden Abend gesessen.

SIMON Hier. Und hier. Und hier. Hier hast du deine Freizeit verbracht.

FLORA Meine Freizeit?

SIMON Hier hast du ferngesehen oder gelesen. Nach einem anstrengenden Tag im Büro bist du manchmal sogar hier eingeschlafen.

FLORA Habe ich hier nicht gearbeitet?

SIMON Doch. Auch. Manchmal. Auf alle Fälle warst du hier sehr glücklich.

FLORA Auf diesem Sessel hier war ich glücklich?

SIMON Ja. Auf diesem Sessel hier warst du sehr glücklich.

FLORA Das kann ich mir nicht vorstellen.

SIMON Setz dich nicht so stark unter Druck.

FLORA Ich setze mich nicht unter Druck.

SIMON Versuch kreativ zu sein.

FLORA Ich bin kreativ.

SIMON Versuch, deine Stärken wiederzufinden. Versuch, auf deinen Stärken aufzubauen.

FLORA Ich baue auf meinen Stärken auf.

SIMON Wenn du dich wieder an alles erinnern kannst, wirst du hier wieder sehr glücklich sein. Wenn du dich einmal hier wohlgefühlt hast, gibt es keinen Grund, warum du dich nicht wieder hier wohlfühlen solltest. Für dich ist diese Umgebung neu. Und du fürchtest dich vor allem, was neu ist.

FLORA Ich fürchte mich nicht davor, ich finde sie eigenartig.

SIMON Das ist ein Abwehrmechanismus. Das haben mir die Ärzte erklärt. Es wird einige Zeit dauern, bis du dich hier wieder wohlfühlen und dieses Haus wieder als dein Zuhause akzeptieren kannst. Diesen Prozess kann man nicht beschleunigen.

FLORA Ich kann mich mit diesen Möbeln nicht identifizieren.

SIMON Was meinst du damit?

FLORA Ich kann mich mit diesem Lebensentwurf nicht identifizieren.

SIMON Mit welchem Lebensentwurf? Du meinst wahrscheinlich, diese Möbel stehen für einen bürgerlichen Lebensentwurf. Aber das stimmt nicht.

FLORA Doch. Diese Möbel stehen für einen bürgerlichen Lebensentwurf.

SIMON Nein. Höchstens vielleicht für einen postbürgerlichen Lebensentwurf.

FLORA Es gibt keinen postbürgerlichen Lebensentwurf.

SIMON Natürlich gibt es einen postbürgerlichen Lebensentwurf. Aber lass uns nicht streiten. Lass uns nicht streiten. Du bist eben erst aus dem Krankenhaus entlassen worden. Wenn du der Meinung bist, dass es keinen postbürgerlichen Lebensentwurf gibt, dann stimme ich dir eben zu. Auf jeden Fall gehören diese Möbel uns. Wir haben jedes einzelne Stück gekauft. Diese Möbel sind ein Teil von uns. Das sind unsere Wünsche. Nein, ich meine, das sind unsere Bedürfnisse. Nein, ich meine, das ist unsere Realität. Das heißt, das ist einfach die Umgebung, in der wir leben.

FLORA Ich kann mich mit diesem Tisch und diesen Stühlen nicht identifizieren.

SIMON Das brauchst du auch nicht. Du brauchst sie nur zu benützen.

FLORA Ich kann sie nicht benützen, wenn ich mich damit nicht identifizieren kann.

SIMON Du kannst dich doch auf diesen Stuhl setzen, auch wenn du dich nicht mit diesem Stuhl identifizieren kannst.

FLORA Nein.

SIMON Setz dich einfach auf den Stuhl.

FLORA Warum?

SIMON Setz dich einfach auf diesen Stuhl, ohne daran zu denken, dass du dich nicht damit identifizieren kannst.

FLORA Ich kann mich hier nicht auf das Bewerbungsgespräch vorbereiten.

SIMON Du brauchst hier nicht zu arbeiten. Du bist hier zuhause.

FLORA Ich bin hier nicht zuhause.

SIMON Doch. Das bist du.

FLORA Ich werde hier nicht arbeiten können.

SIMON Du sollst hier auch nicht arbeiten. Du sollst dich hier entspannen. Du sollst hier deine Erinnerungen wiederfinden. Du sollst hier atmen und meditieren. Meditiere hier auf diesem Stuhl. Oder auf diesem Teppich. Sieh beim Fenster hinaus. Inhaliere alles, was du draußen siehst.

FLORA Warum werfen wir nicht alles raus und kaufen uns neue Möbel?

SIMON Warum? Diese Möbel sind doch sehr schön.

FLORA Wir sollten neue kaufen, als Symbol dafür, dass ich aus dem Koma aufgewacht bin. Als ein Symbol für den Neubeginn.

SIMON Das ist eine großartige Idee. Aber im Augenblick fehlt uns das Geld für diesen symbolischen Neubeginn.

FLORA Du hast doch erzählt, dass du eine Agentur besitzt.

SIMON Das stimmt auch. Aber diese Agentur befindet sich gerade in einer schwierigen Phase.

FLORA Wie lange wird diese Phase dauern?

SIMON Ich warte auf einen Anruf von der Bank. Ich warte auf die Entscheidung, ob ich einen neuen Kredit bekomme.

FLORA Was passiert, wenn du den Kredit nicht bekommst?

SIMON Dann werden wir gar kein Haus mehr besitzen, für das wir neue Möbel kaufen können.

FLORA Meinst du das im Ernst?

SIMON Nein. Selbstverständlich nicht.

4

JULI Das Klischee von den besten Freundinnen besagt, dass beste Freundinnen keine Geheimnisse voreinander haben und einander in allem vertrauen. Bei Flora und mir entspricht dieses Klischee der Wirklichkeit. Flora und ich kennen uns, seitdem wir vierzehn sind, und ich habe immer alles von ihr und sie hat immer alles von mir gewusst. Das einzige, das Flora nicht weiß, ist, dass Simon und ich eine Beziehung haben und dass wir zusammen ein neues Leben beginnen werden. Das habe ich Flora nicht erzählt. Das muss ich ihr erst noch erzählen. Aber seit ihrer Operation, seit diesem Ichverlust oder dieser Seelenwanderung oder wie immer der Fachausdruck dafür lautet, ist es noch viel schwieriger geworden, ihr das zu gestehen. Ich will sie nicht verletzen. Im Gegenteil möchte ich, dass es ihr so schnell wie möglich wieder besser geht und sie wieder so wird, wie sie früher immer gewesen ist. Wenn ich ihr die Gründe dafür, warum Simon und ich uns lieben, auf eine Weise erklären kann, dass sie diese Gründe nachvollziehen kann, wird sie es verstehen und wird keinen von uns hassen. Ich habe in meinem Leben so viele Fehler gemacht, dass ich jetzt endlich damit beginnen muss, diese Fehler zu korrigieren. Sonst werde ich irgendwann vor lauter Fehler nicht mehr atmen können. Ich habe mich vor langer Zeit für den falschen Partner entschieden und das bedeutet, für die falschen gemeinsamen Abendessen, für die falschen gemeinsamen Wochenenden, für den falschen Geschlechtsverkehr. Simon ist der richtige Partner für mich. Wir sind wie füreinander geschaffen, auch weil wir beide ein neues Leben beginnen wollen. Eine Hand wäscht die andere. Wie du mir, so ich dir. Simon hat mich gebeten, für einen Kredit zu bürgen und ich habe ihm versprochen, das zu tun, sobald er Flora mitgeteilt hat, dass er sich scheiden lassen wird. Ich habe vor kurzem etwas geerbt. Ich bin deshalb nicht reich. Aber es ist genug, um für den Kredit zu bürgen. Flora wird erkennen, dass Simon und ich zusammengehören. Wir sind eine wirtschaftliche Realität, die man akzeptieren muss. Wir sind ein Liebespaar, vor dem man nicht die Augen verschließen kann. Wir haben eine gemeinsame Zukunft, bei der es keinen Sinn hat, den Kopf in den Sand zu stecken. Bevor ich Flora alles über Simon und mich erzähle, werde ich noch versuchen, sie zu überreden, nicht zu diesem Bewerbungsgespräch zu gehen, damit ihr diese Demütigung erspart bleibt. Ich will ihr helfen. Schließlich ist sie meine beste Freundin.

5

JULI Warum willst du unbedingt zu diesem Bewerbungsgespräch gehen?

FLORA Ich habe bei der Unternehmensberatung gekündigt. Das weißt du doch. Ich brauche einen neuen Job.

JULI Warum ausgerechnet in dieser Firma?

FLORA Diese Firma ist der zurzeit begehrteste und beliebteste Arbeitgeber.

JULI Eine Firma, die unter tausend Bewerbern wählen kann, wird sich nicht für diejenige Bewerberin entscheiden, die sich nicht einmal an ihren eigenen Namen erinnern kann. Als du aus dem Koma aufgewacht bist, konntest du dich weder an deinen noch an meinen Namen erinnern. Das Bewerbungsgespräch wird eine Demütigung für dich werden. Du vergisst, dass du jetzt jemand anderes bist.

FLORA Was meinst du damit?

JULI Du bist nicht mehr dieselbe.

FLORA Wie kommst du auf diese Idee?

JULI Du bist nicht mehr dieselbe Person wie zu dem Zeitpunkt, als du das Bewerbungsschreiben abgeschickt hast.

FLORA Ich bin noch immer dieselbe Person.

JULI Du bist sechs Tage im Koma gelegen. Wer eine so lange Zeit im Koma liegt, verändert sich. Die Zeit im Koma hat dich verändert.

FLORA Das hat sie nicht.

JULI Ich weiß nicht, was während so eines Komas passiert, aber das hat dich verändert. Du glaubst, noch immer dieselbe Person zu sein, aber du bist es nicht.

FLORA Ich muss doch besser als du wissen, ob ich noch dieselbe Person bin oder nicht.

JULI Du bildest es dir nur ein, aber in Wahrheit bist du es nicht.

FLORA Ich spüre, dass ich noch immer dieselbe Person bin.

JULI Das kann man nicht spüren.

FLORA Ich spüre, wer ich bin.

JULI Man kann nicht spüren, wer man ist. Man kann vielleicht wissen, wer man ist. Ich habe noch nie jemand sagen hören, ich spüre, wer ich bin. Die eigene Persönlichkeit kann man nicht spüren.

FLORA Warum sollte man das nicht können?

JULI Was du spürst, ist nicht deine Persönlichkeit. Du spürst irgend etwas anderes.

FLORA Ich spüre meine Persönlichkeit.

JULI Du spürst bloß irgendwelche Emotionen. Die eigene Persönlichkeit kann man nicht spüren.

FLORA Ich kann auseinander halten, was meine Persönlichkeit ist und was irgendwelche Emotionen sind.

JULI Dir war immer deine Arbeit wichtig. Wenn du deine Persönlichkeit spüren würdest, dann würdest du auch diese Begeisterung für die Arbeit spüren.

FLORA Die spüre ich auch.

JULI Du würdest dein Bedürfnis nach Karriere spüren.

FLORA Das spüre ich auch.

JULI Du würdest deine aggressiven egoistischen Interessen spüren.

FLORA Diese Interessen spüre ich auch.

JULI Du hattest einmal aggressive egoistische Interessen. Aber das hast du jetzt nicht mehr. Wenn du keine aggressiven egoistischen Interessen spürst, hat es gar keinen Sinn, zu einem Bewerbungsgespräch zu gehen.

FLORA Ich habe dir gesagt, dass ich das alles spüre.

JULI Du hast dich verändert. Du kannst nichts dafür, dass du dich verändert hast. Der Kern deiner Persönlichkeit hat sich verändert. Das sagen auch die Ärzte. Deshalb hast du auch die Tabletten bekommen.

FLORA Man bekommt immer irgendwelche Tabletten, wenn man im Krankenhaus gewesen ist.

JULI Du solltest akzeptieren, dass du nicht mehr dieselbe bist. Deine Persönlichkeit hat sich verändert.

FLORA Meine Persönlichkeit hat sich nicht verändert.

JULI Vielleicht hat diese Veränderung auch etwas Positives.

FLORA Meine Persönlichkeit hat sich nicht verändert.

JULI Überall kann man lesen, dass man nicht das ganze Leben lang dieselbe Person bleiben soll. Überall steht, dass man seine Persönlichkeit aufspalten soll. So wie man einen Apfel in mehrere Spalten teilt, damit man ihn leichter essen kann. Eine gespaltene Persönlichkeit ist doch der letzte Schrei. Man findet gar keinen Job mehr ohne eine gespaltene Persönlichkeit. Sei froh darüber, dass du dich ein bisschen verändert hast.

FLORA Ich habe mich nicht verändert.

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LARS In der Firma, in der ich arbeite, besteht meine Aufgabe darin, das Tor dieser Firma zu bewachen und dieses Tor nur für diejenigen zu öffnen, die wirklich zu dieser Firma passen und sie mit ihrem Potenzial und ihrer Leistungsbereitschaft größer und erfolgreicher machen können. Ich bin dafür verantwortlich, in dem Heuhaufen der eintausend Bewerber die Nadel des einen besonderen Bewerbers zu finden. Keine Entscheidung ist so folgenreich wie eine Personalentscheidung. Eine schlechte Personalentscheidung ist für die Firma verhängnisvoll und lässt sich nur schwer korrigieren. Deshalb lasse ich mir bei meiner Entscheidung viel Zeit. Ich blicke den Bewerbern bis auf den Grund. Ich steige in ihr Innerstes hinab. Ich entdecke bei jedem das Potenzial, das in ihm steckt. Dabei mache ich es mir nicht leicht. Eine Entscheidung kann Existenzen vernichten. Ich möchte niemanden vernichten. Das ist nicht meine Art. Es passt auch nicht zu den Werten unserer Firma. Ich bin ganz zufällig in dieses Management der Humanressourcen hineingerutscht. Hier zu arbeiten, war nicht von Anfang an mein Ziel. Ich wollte immer in der Entwicklung Karriere machen, bis ich erkannt habe, dass ich mich im Inneren der Menschen besser zurechtfinde als im Inneren der Maschinen. Die Firma beschäftigt sich mit dem Sammeln von personenbezogenen Daten. Unser Ziel ist es, von jedem Menschen so viele Daten zu besitzen, dass wir jedem genau sagen können, wer er ist. In Zukunft werden wir jedem Anregungen zur Gestaltung seines Lebens geben können. Wir werden jedem sagen können, was er aus seinem Leben machen soll. Wir sind für jeden da und wir wollen jedem helfen. Wir sind eine Firma, die große Ziele hat. Wir sind eine Firma, die ihre gesellschaftliche Verpflichtung Ernst nimmt. Aber wir sind auch eine Firma, die Spaß macht. Aus diesem Grund sind wir einer der begehrtesten Arbeitgeber in diesem Land. Meine Frau arbeitet ebenfalls in dieser Firma. Ich habe sie bei einem Bewerbungsgespräch kennengelernt. Sie kam eines Tages in mein Büro, um sich für einen Job zu bewerben. Schon nach fünf Minuten wusste ich, dass ich mich für sie entscheiden werde.

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LARS Ihre Bewerbungsunterlagen sagen mir, dass Sie optimal für diese Stelle geeignet wären. Ihre fachlichen Qualifikationen stehen außer Frage. Ich habe Sie zu diesem Gespräch eingeladen, um herauszufinden, wer Sie wirklich sind. Meine Entscheidung wird davon abhängen, wer Sie hinter dieser Arbeitsbiografie und diesen Fähigkeiten im Innersten sind und ob dieses Innerste zu unserem Unternehmen passt. Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen und so versuchen, etwas über Ihr Innerstes herauszufinden.

FLORA Ich glaube nicht, dass Sie etwas über mein Innerstes herausfinden werden.

LARS Ich habe noch bei jedem Kandidaten etwas über sein Innerstes herausgefunden.

FLORA Bei mir wird Ihnen das nicht gelingen.

LARS Warum glauben Sie das?

FLORA Ich habe kein Innerstes.

LARS Ich meine damit, Ihr innerstes Wesen, Ihr eigentliches Wesen, Ihr Wesenskern, Ihr innerstes Selbst.

FLORA Ich habe kein innerstes Selbst.

LARS Sie wären die erste Person in diesem Raum ohne ein innerstes Selbst.

FLORA Das weiß ich nicht. Möglicherweise bin ich das.

LARS Haben Sie Probleme mit Ihrem Innersten?

FLORA Nein.

LARS Wenn Sie irgendwelche Probleme damit haben, dann sind Sie für diese Position nicht geeignet.

FLORA Ich habe keine Probleme damit.

LARS Sie sehen auch nicht so aus, als ob Sie Probleme damit hätten. Das sieht man den Menschen im allgemeinen sofort an. Warum behaupten Sie, dass Sie kein Innerstes haben?

FLORA Ich habe es verloren.

LARS Sein Innerstes kann man nicht verlieren.

FLORA Ich habe es bei einer Operation verloren.

LARS Bei welcher Operation?

FLORA Ich habe mich für dieses Gespräch operieren lassen.

LARS Sie haben sich für unser Gespräch operieren lassen?

FLORA Ja. Um dabei mit einem besseren Aussehen bessere Chancen zu haben.

LARS So etwas dürfen Sie mir nicht erzählen. Auch wenn Sie damit zeigen, dass Sie selbstironisch sein können. Ich darf so etwas nicht wissen. Das könnte mein Urteil beeinflussen.

FLORA Haben Sie Vorurteile gegenüber Menschen, die sich operieren lassen?

LARS Selbstverständlich nicht. Ich habe gar keine Vorurteile.

FLORA Alle, die sich für eine Position in Ihrer Firma bewerben, lassen sich operieren.

LARS Das stimmt nicht.

FLORA Das kann man überall über diese Firma lesen.

LARS Falls es stimmen sollte, interessiert es mich nicht. Ich darf mich von solchen Dingen nicht beeinflussen lassen. Es spielt keine Rolle, wie ein Bewerber aussieht. Ich interessiere mich nicht für Ihr Äußeres sondern für Ihr Inneres.

FLORA Ich habe kein Inneres.

LARS Nennen Sie es einfach anders.

FLORA Es nützt nichts, wenn ich es anders nenne. Ich habe auch das anders Genannte nicht.

LARS Jeder hat einen inneren Kern. Einen inneren Zusammenhalt. Eine innere Struktur. Ein inneres Management. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Einen inneren Fokus. Ein inneres Wachstum. Eine ganz persönliche Persönlichkeit. Wir suchen unsere Mitarbeiter nach ihrem Innersten aus, weil wir nur von diesem Innersten profitieren. Wenn Sie, wie Sie behaupten, gar kein solches Innerstes haben, warum wollen Sie dann hier arbeiten? Sie müssen auf dieser Position ein hohes Maß an Eigeninitiative zeigen. Sie können keine Eigeninitiative zeigen, wenn Sie nichts Eigenes haben. Warum wollen Sie hier arbeiten?

FLORA Ich kann mich mit dieser Firma identifizieren.

LARS Das freut mich. Aber warum sollten wir Sie einstellen, wenn Sie, wie Sie behaupten, kein Innerstes haben?

FLORA Ich habe mich für diese Firma operieren lassen.

LARS Das hat niemand von Ihnen verlangt.

FLORA Ich habe für diese Firma ein Opfer gebracht.

LARS Sie haben ein Opfer gebracht, um bessere Chancen bei dem Bewerbungsprozess zu haben.

FLORA Ich habe für Sie ein Opfer gebracht, aber Sie wollen dieses Opfer nicht annehmen.

LARS Ich bin hier, um Bewerbungsgespräche zu führen, nicht um Opfer anzunehmen.

FLORA Geben Sie mir diese Stelle. Ich kann mich mit dieser Firma identifizieren.

LARS Es tut mir Leid, aber die Firma kann sich nicht mit Ihnen identifizieren.