Menu

Nur alle zusammen sind ein Einzelschicksal

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

Jeder hat eine eigene Geschichte zu erzählen. Seine eigene Geschichte, die unverwechselbar ist und die aus ihm etwas Unverwechselbares macht. Wenigstens für eine kurze Zeit. Wichtiger aber ist die Geschichte, die man gemeinsam zu erzählen hat. Weil man sie gemeinsam erlebt hat, oder gerade dabei ist, sie zu erleben. Oder weil man sich versichern muss, dass man sie gerade erlebt. Oder weil man sich versichern muss, dass das, was man gerade erlebt, das eigene Leben ist. Oder weil man keine Ahnung hat, was das eigentlich ist, das man da gerade erlebt, aber wenigstens tut man es zusammen mit anderen. In dem Stück „Ressource Liebe“ steht am Anfang die Geschichte von Line: Line hat sich in ein Haus verliebt. Aber es ist nicht irgendein Gebäude, in das sie sich so Hals über Kopf verliebt hat, sondern es ist ihr Firmengebäude. Eigentlich wollte sie kündigen, weil sie von ihrer Firma ausgebeutet wird, aber das geht jetzt nicht mehr. Jetzt kann sie sich von dieser Firma nicht mehr trennen. Und seitdem sie wie wahnsinnig in dieses Gebäude verliebt ist, hat sie Angst, sie könnte gekündigt werden und dürfte dann natürlich das Gebäude nicht mehr betreten. Das ist Lines Geschichte und sie muss sie erzählen. Was soll sie auch sonst, als sie zu erzählen. Als sie beim Erleben zu erzählen und beim Erzählen zu erleben.
Aber gleichzeitig ist es auch die Geschichte der anderen, weil es auch ihr Dilemma ist. Lines Geschichte ist der Auslöser für die Geschichte der anderen. Die Geschichte hat einen Anfang, aber kein Ende. Eigentlich beginnt sie erst mit dem Augenblick, in dem sie erzählt wird, in dem sie dargestellt wird. Einer nach dem anderen nimmt den Faden auf, muss die Geschichte weitererzählen oder weiterdarstellen, auch um draufzukommen, ob das, was er da erzählt und darstellt, auch sein Leben sein könnte. Das Erzählen und Darstellen ist eine Chance, sozusagen die zweite Chance, die dir das Leben gibt, um draufzukommen, was das Leben ist.
Einer greift den Gedanken eines anderen auf, denkt den Gedanken eines anderen weiter, wie einer das Leben eines anderen aufgreift, um es weiterzuleben. Ich muss jetzt dein Leben weiterleben, damit ich meines besser verstehe. Ich muss dein Leben eine Zeit lang leben, damit ich dann wieder mein eigenes leben kann. Ich brauche Veränderung, Abwechslung, eine Zeit lang eine andere Stimme, eine andere Wohnung, ein anderes Auto. Ich muss mir ein anderes Leben ausborgen, mir die Maske eines anderen Lebens aufsetzen, um von dort auf mein eigenes Leben zu schauen. Was ich erlebe, müsste eigentlich mein Leben sein, aber es fühlt sich nicht so an. Es fühlt sich fremdartig an. Und ich kann nicht sagen, ob das besser oder schlechter ist, ob das mein Leben reicher oder ärmer macht. Alles, was ich weiß, ist, dass ich das Leben und diese Gefühle, die nicht zusammen passen, unmöglich allein beschreiben kann. Dabei nützen mir die eigene Biographie, die eigenen Kindheitserinnerungen, die eigenen Illusionen nichts. Die einzige Möglichkeit besteht darin, die Geschichte dessen zu erzählen, was im Augenblick mit mir passiert: die Geschichte der Veränderung. Tom sagt einmal im Stück: „Du befindest dich jetzt in einem Zustand von Unsicherheit. Diesen Zustand von Unsicherheit musst du gestalten.“
In Goethes „Wahlverwandtschaften“ heißt es irgendwo: „Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden.“ Was ist das Rätsel? Worin besteht es? Was ist der Konflikt? Wo steckt er? Lines Konflikt ist auch der Konflikt der anderen. Sie stecken alle in demselben Konflikt. Lines Konflikt wird zu dem Konflikt von allen. Lines Geschichte ist kein Einzelschicksal. Nur Lines und Marens und Evas und Daniels und Toms Geschichten zusammen sind ein Einzelschicksal. Wie wird die Geschichte weitergehen? Wie geht sie aus? Zuerst geht es darum, den Konflikt zu finden. Aufzustöbern. Zu benennen. Zu formulieren. Der Konflikt ist nicht mehr so leicht zu finden. Wo ist der Widerspruch? Den Widerspruch hat jemand in uns hinein verlegt, damit wir ihn nicht sofort finden. Wer ihn in uns hinein verlegt hat, der profitiert bestimmt auch davon. Die Frage ist, ob man auch selbst davon profitieren kann. Kann ich von mir profitieren? „Das Persönliche ist am produktivsten“ lautet einer der Zaubersprüche der aktuellen Managementpraxis. Nur das Persönliche erwirtschaft den großen Gewinn. Dazu muss davor das Persönliche bewirtschaftet werden. Die Frage ist: Wenn andere so viel von mir profitieren, was kann ich selbst von mir profitieren?
Rede und Gegenrede. So findet man zu einer Geschichte zusammen. Und zur Reflexion der Geschichte zur selben Zeit. Line, Maren, Eva, Daniel, Tom. Das sind die Namen in dem Stück. Das sind fünf Namen. Fünf Namen für fünf Figuren. Fünf Namen für fünf Schauspieler, die die Figuren darstellen. Die sie darstellen können für eine bestimmte Zeit, bis sie wieder sie selbst sind, bis sie sich entschließen, bloß den Text zu sprechen, bis sie schließlich wieder die Figuren sind. Fünf Namen für fünf Schauspieler, die eine Figur entwickeln und einen Gedanken entwickeln. Und die ständig bereit sind, von der Figur in den Gedanken zu wechseln und wieder zurück. Wichtig ist nicht, dass es unbedingt passiert, sondern dass es jederzeit passieren kann.
In Godards „2 ou 3 Choses que je sais d’elle“ aus dem Jahr 1966 ist jene „sie“ sowohl eine Figur (Juliette) als auch eine Stadt (Paris). Von beiden wird erzählt, von beiden wird gesprochen, und beide sprechen, beide haben eine Stimme. Von beiden wissen wir am Ende etwas, aber eben nur zwei oder drei Dinge, und nicht alles. „Juliette“ lebt in Paris und das soziologische Phänomen „Paris“ lebt in Juliette. Bei Godard sind (nach Anne Marie Freybourg) die Figuren „lediglich Elemente der Anbindung für die Prozesse des Denkens, die in den Geschichten vorgeführt werden.“
Was am Ende Line in „Ressource Liebe“ betrifft, was uns alle betrifft: Sich in ein Gebäude zu verlieben und mit diesem Gebäude Sex zu haben, ist auf alle Fälle besser als gar nichts mehr zu empfinden. Der Einsamkeit und Traurigkeit in den Bürotürmen zum Beispiel der großen Versicherungen oder Banken entkommt man nur, indem man liebt. Und wenn es keinen anderen Menschen gibt, der diese Liebe erwidern könnte, weil alle so erschöpft von ihren Weiterbildungsseminaren sind oder sich gerade für das nächste Meeting vorbereiten müssen, dann trifft die Liebe eben das Firmengebäude. Es ist klar, dass jedes Unternehmen versuchen wird, diese Sehnsucht nach Liebe auszunützen. Die Sehnsucht nach Liebe verwandelt sich in eine Sehnsucht nach Karriere, die Sehnsucht nach Karriere verwandelt sich in eine Sehnsucht nach hundertprozentiger Identifikation mit dem Unternehmen. Liebe und Sexualität führen zu einer Steigerung des Profits. Trotzdem muss es auch für eine Liebe, die eigentlich eine Depression ist, ein Happy End geben. Für eine Liebe, die nur mehr eine Schwachstelle ist, eine alte Tür, die sich nicht mehr reparieren lässt und durch die ständig jemand kommt, um uns zu bestehlen.