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Petersburg-Gewissheit

© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor

Roman bringt uns in einem Kleinbus vom Flughafen zum Hotel, wir sitzen auf der Rückbank und starren hinaus, vierter April, kein Schnee mehr, Tauwetter, die Straßen und Fassaden sind hellbraun, wir fahren über den Moskauer prospekt. Zum ersten Mal in Petersburg? Ja. Zum ersten Mal in Russland? Ja. Roman lädt uns vor dem Hotel Moskwa ab, zwei Stunden später wird er uns wieder abholen und zur Eröffnung bringen.

Die Österreichische Kulturwoche wird im Dom-Kino eröffnet, es gibt einen österreichischen Film, unsynchronisiert, die Dialoge werden live übersetzt, ich versuche unter der russischen Stimme aus den Lautsprechern den Originalton zu hören, funktioniert aber nicht. In einem anderen, kleineren Saal des Gebäudes wird das Buffet aufgebaut, die Glastüren sind noch verschlossen, ich beschließe davor zu warten und der erste zu sein. Glaubst du, dass es Kaviar gibt, frage ich Michael. Wahrscheinlich. Schwarzen und roten Kaviar? Wahrscheinlich. Ich sehe den Kellnern beim Aufbau zu. In den Fenstern auf der anderen Seite geht die Sonne unter. Die Leiterin des Festivals will mit mir reden, jetzt sofort? Der Film ist aus, jetzt ist die passende Gelegenheit. Ich muss von der Glastür weg, büße meine erste Reihe ein. Ich unterhalte mich mit der Leiterin des Festivals. Zum ersten Mal in Petersburg? Ja. Zum ersten Mal in Russland? Ja. Als ich endlich in den Saal kann, ist der Kaviar weg. Hat es Kaviar gegeben, frage ich Michael. Weiß ich nicht. Hast du keinen Kaviar gesehen? Ich nehme mir kleine Fleischspieße, dazu Kraut und Gurken und Eier.

Am Morgen liegt auf den Straßen Schnee, am Frühstücksbuffet gibt es Fleischspieße, Kraut, Gurken und Eier. Nach dem Frühstück ist der Schnee verschwunden. Das Sightseeing-Programm: Dostojewskijs Heumarktviertel, der Gribojedow-Kanal, das Haus von Raskolnikow. Danach in ein Restaurant, um Blinis und Kaviar zu essen. Unbedingt Kaviar, endlich Kaviar. Das sind wir uns als Touristen schuldig. Am Abend in der Hotelbar finnisches Bier zu westeuropäischen Preisen, angegeben in Dollar, zu bezahlen in Rubel. Ich beobachte russische Jugendliche beim Billard. Gegen Mitternacht betreten Männer in dunklen Anzügen mit Sonnenbrillen die Hotelhalle, sie verteilen sich auf die Lederfauteuils, die Frauen, die mit ihnen gekommen sind, setzen sich neben sie und warten auf Kunden. Als ich zum Lift will, kommt eine der Frauen auf mich zu. First time in Petersburg? Yes. First time in Russia? Yes.

Am nächsten Tag findet im Teatr Satiri auf der Wassiljewskij-Insel eine szenische Lesung meines Theaterstückes statt. Ich sitze in der ersten Reihe, die Schauspielerinnen sind wunderschön, ich verstehe kein einziges Wort, ich sehe die ganze Zeit die Schauspielerinnen an. Der Saal ist voll, vielleicht sind viele auch nur gekommen, weil hier geheizt wird. Aber alle hören aufmerksam zu. Anschließend gibt es ein Publikumsgespräch, ich setze mich gemeinsam mit Michael, der übersetzen wird, auf die Bühne, Olga, die Dramaturgin, bittet das Publikum Fragen zu stellen. Michael und ich warten, vielleicht hat ja niemand Lust, eine Frage zu stellen. Eine Frau um die Fünfzig meldet sich, in der vorletzten Reihe, sie spricht langsam und sieht mich dabei direkt an, sie sagt: „Die Figuren in ihrem Stück haben ihre Seele verloren und versuchen sie wiederzufinden.“ Michael übersetzt: „Die Figuren in deinem Stück haben ihre Seele verloren und versuchen sie wiederzufinden.“ Die Frau um die Fünfzig setzt sich, niemand hat sich umgedreht, um zu sehen, wer diese Frage gestellt hat, wer diesen Satz gesagt hat. Soll ich jetzt darauf antworten? Michael sieht mich an. Soll ich jetzt darauf antworten? Was antwortest du, fragt mich Michael. Olga und der Direktor des Theaters sehen zu mir, alle warten auf eine Antwort. Was antwortest du, fragt mich Michael noch einmal.

Der Direktor des Theaters lädt uns am Abend zu einer Feier ins Restaurant des Theaters. Der Direktor des Theaters bringt auch den ersten Trinkspruch aus, Olga den nächsten, dann Andrej, der Regisseur, dann die Leiterin des Festivals, dann Michael, dann ich, dann beginnt wieder der Direktor des Theaters, jedes Mal wird danach mit Wodka angestoßen. Noch bevor der erste Gang aufgetragen wird, haben wir bereits zehn Trinksprüche hinter uns, zehn Gläser Wodka. Der erste Gang bedeutet eine kurze Pause. Nach der Fischsuppe fahren wir mit den Trinksprüchen fort, sie werden jetzt kürzer, niemand hat mehr die Kraft für eine lange Rede, jeder braucht seine ganze Kraft für den Wodka. Am Ende, nach dem letzten Glas Wodka, gibt es eine Tasse Tee. Andrej, der Regisseur, taucht Würfelzuckerstücke in seinen Tee und saugt die Flüssigkeit durch den Zucker auf. Er sagt: „Ich glaube auch, dass die Figuren in deinem Stück ihre Seele verloren haben und nun versuchen sie wiederzufinden.“

Wir verlassen das Theater, Michael stellt sich auf die Straße, streckt einen Arm in die Höhe, schon das erste Auto bleibt stehen, Michael handelt den Preis aus, er und der Fahrer werden sich lange nicht einig, schließlich steigen wir doch ein und fahren Richtung Hotel. Unterwegs bietet uns der Fahrer von seinem Wodka an, den er aus dem Handschuhfach geholt hat. Michael schüttelt den Kopf, der Fahrer trinkt allein. Auf dem Newskij prospekt fährt er gegen den Randstein, ein jäher Ruck und ein Holpern, kein Kommentar dazu, wir fahren schweigend weiter. Bei einer Performance in Graz ließ sich einmal ein russischer Künstler von einer Seilwinde an den Füßen hochziehen, bis er kopfüber über seinem Schreibtisch baumelte. So blieb er minutenlang hängen, dann ließ er sich wieder zu Boden und wiederholte nach einer kurzen Pause die Prozedur. Der Titel der Arbeit: So sieht uns der Westen.

Am nächsten Morgen liegt wieder Schnee auf den Straßen. In der U-Bahn-Station Majakowskaja schreit sich eine alte Frau, inmitten von dutzenden von Plastiksäcken, wie ein Schutzwall rund um sie aufgestapelt, die Seele aus dem Leib. In den Glaskabinen am unteren Ende der Rolltreppe schweigen sich die Frauen, die den ganzen Tag die Rolltreppe im Auge behalten und für die Sicherheit garantieren, die Seele aus dem Leib. In der ehemaligen Wohnung von Anna Achmatowa im Scheremetew-Palast flüstert sich eine Museumsaufseherin die Seele aus dem Leib, so leise dass es die anderen Aufseherinnen nicht hören können. Sie flüstert auf deutsch. Zum ersten Mal in Petersburg? Zum ersten Mal in Russland? Am Abend führt uns Michael zur Newa, zeigt uns das Gefängnis am anderen Ufer, erzählt, dass an dieser Stelle manchmal die Frauen der drüben im Gefängnis sitzenden Männer stehen und über den Fluss hinweg Lieder singen, sich die Seele aus dem Leib singen.

Wir wechseln ein letztes Mal Dollar in Rubel, der Kellner in der Hotelbar fragt, ob wir deutsches oder finnisches Bier für das bessere Bier halten, er stellt uns Erdnüsse hin, eine große Schale, die sind gratis, im Osten, im Westen, auf der ganzen Welt, ich sage, finnisches Bier, er lächelt, er gibt ebenfalls dem finnischen Bier den Vorzug. Draußen tobt ein Schneesturm, die Newa ist schwarz, Eisschollen treiben darauf, heute sind die Männer mit den Sonnenbrillen und ihre Frauen nicht erschienen, vielleicht wegen des Schneesturms nicht. Ich nehme mir vor, einmal bei einer Podiumsdiskussion, einem Publikumsgespräch in einem Theater im Westen, natürlich im Westen, zu sagen, die Figuren in diesem Stück haben ihre Seele verloren und versuchen sie wiederzufinden, ich nehme mir vor, bei einer solchen Diskussion einmal das Wort Seele auszusprechen.