Rache der kleinen Städte
© Text Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor
Eine Gruppe von sechs Frauen und Männern. Spät in der Nacht. Sie befinden sich auf einem von Straßenlaternen nur schwach beleuchteten Platz, ein paar Meter weiter alles schon wieder Dunkelheit. Ab und zu wagt sich einer von ihnen vor, kehrt aber schnell wieder zur Gruppe zurück.
2 Wir hätten mit dem Bus fahren sollen. Wie die anderen.
4 Wir können immer noch ein Taxi nehmen.
5 Ich habe hier noch kein Taxi gesehen.
6 Ursprünglich hätte es Madrid sein sollen. In Madrid wäre uns das nicht passiert.
3 Ich finde diesen Platz nicht auf dem Plan.
2 Das ist ein Plan für Touristen. Darauf ist nur das Zentrum abgebildet.
1 Das ist das Zentrum.
2 Ich glaube, da irrst du dich.
3 Zu den Sehenswürdigkeiten in dieser Stadt gehören die barocke Altstadt und der kunsthistorisch bedeutsame Dom.
4 Woher weißt du das?
3 Steht auf der Rückseite des Stadtplans.
1 Wir müssen uns unbedingt morgen die Altstadt ansehen.
2 Die Altstadt ansehen. Die Altstadt ansehen. Die Touristen sagen auch die ganze Zeit, wir müssen uns unbedingt noch die Altstadt ansehen.
5 Liegt unser Hotel nicht in der Altstadt?
4 Ich weiß nicht. Da bin ich mir nicht sicher.
5 Liegt unser Hotel nicht im Herzen der Altstadt?
2 Im Herzen der Altstadt. Schon wieder so eine Phrase.
3 Hier gab es einmal Industrie. Schwerindustrie. Aber damit ist schon seit einiger Zeit Schluss.
5 Warum ist damit Schluss?
3 Steht nicht da.
6 Das hätten sie hinschreiben sollen.
1 Das kann man nicht auf einen Stadtplan schreiben.
2 Nicht das beste Viertel hier.
4 Ich habe keine Angst.
2 Das habe ich nicht gemeint.
5 Das Viertel unter der Autobahn. Das Viertel beim Flughafen. Das Viertel im Osten.
Das schwarze Viertel.
6 Wenigstens gibt es eine Straßenbeleuchtung. In anderen Städten wird nach Mitternacht die Straßenbeleuchtung abgeschaltet.
1 Es ist noch nicht Mitternacht.
5 Wir müssen anrufen im Hotel. Sagen, dass wir später kommen.
3 Die werden lachen.
5 Wer?
6 Über uns.
4 Ich rufe jetzt ein Taxi.
2 Hier ist kein Empfang. Ich habe keinen Empfang. Null.
4 Gibt es nicht.
6 Wieviele Einwohner, glaubst du, hat diese Stadt? Einhunderttausend? Ich fahre nicht gern in Städte, die weniger als zweihundertfünfzigtausend Einwohner haben.
1 Wo liegt es jetzt?
3 Diese Frage soll ich beantworten?
5 Auf der anderen Seite des Flusses.
2 Es liegt auf dieser Seite. Auf dieser Seite. Da bin ich mir sicher.
1 Keine Ahnung, wo wir sind. Absolut keine Ahnung.
6 Das hast du schon einmal gesagt.
1 Ich sage es, weil es stimmt.
2 Kein Empfang. Null. Hier haben wir keinen Empfang, also müssen wir uns bewegen.
3 Aber wir bewegen uns immer weiter weg vom Hotel.
4 Genauso wie in Vancouver. Da haben wir auch zu steiten begonnen.
6 Auf dem Kongress vor drei Jahren?
5 Vor drei Jahren war Barcelona.
3 Habt ihr da im Marriott gewohnt?
5 In Barcelona haben wir im Hilton gewohnt.
3 In Vancouver muss man im Marriott wohnen.
2 Ich war mal in Vancouver, aber ich kann mich an nichts erinnern.
6 Das hat diese Stadt nicht verdient.
2 Ich glaube, ich verwechsle Vancouver mit Toronto.
1 Das ist nicht dein Ernst.
6 Ich war mal in Vancouver im Hyatt.
1 Wie kann man nur Vancouver mit Toronto verwechseln.
5 Das Hilton in Barcelona, das war furchtbar.
6 Ich kann dir Dinge vom Hilton in Budapest erzählen.
4 In Vancouver hat die ganze Gruppe zu streiten begonnen. Plötzlich. Und nachher wusste keiner mehr, warum.
5 Marriott ist besser als Hilton.
6 Und Hyatt ist besser als Marriott.
1 Kennt ihr das Hyatt in Toronto?
3 Ich kenne das Hyatt in Warschau.
1 Ich verstehe nicht, wie man Vancouver mit Toronto verwechseln kann.
5 In Barcelona sind wir abends nicht ins Hotel, einfach nicht ins Hotel, keinen Abend, einfach nicht ins Bett. Nie vor vier. Und dann war ich krank.
2 Du wirst doch jedes Mal krank.
5 Das ist dir aufgefallen.
2 Ja. Das ist mir aufgefallen.
5 Und in Kairo?
2 Was war in Kairo?
5 In Kairo waren wir alle krank.
4 Das gibt es doch nicht.
1 Sie haben die Straßenlaternen ausgeschaltet.
6 Ich habe es euch ja gesagt. Diese Stadt ist fertig. Diese Stadt liegt am Boden. Diese Stadt kämpft den Todeskampf.
2 Hat jemand von euch schon Empfang? Ich habe noch immer keinen Empfang. Absolut null.
3 Ich habe Hunger.
6 Ich glaube, diese Stadt hat nicht mehr als hundertfünfzigtausend Einwohner.
Jedes Mal in diesen kleinen Städten passiert mir etwas.
3 Wenn ich Hunger habe, kann ich mich auf nichts anderes konzentrieren.
4 Gehen wir endlich.
1 Jetzt? In welche Richtung? Mitten in die Dunkelheit hinein?
2 Warten wir noch einen Augenblick.
4 Wir müssen zurück. Über die Brücke zurück.
5 Wir hätten nie über diese Brücke gehen dürfen. Das war unser Fehler.
Wir hätten nie auf die andere Seite gehen dürfen.
3 Ich halte morgen meinen Vortrag. Ich muss mich noch vorbereiten.
6 Diesen Vortrag hast du doch schon in Stockholm gehalten. Diesen Vortrag kannst du auswendig.
3 Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich habe gedacht, wir sind Freunde.
1 Glaubt ihr, sie schalten die Lampen wieder ein?
3 Wir müssen ein Feuer machen. In einer Notsituation macht man ein Feuer.
5 Wenn wir hier ein Feuer machen. Mitten in der Stadt.
2 Mitten in der Stadt. Schon wieder so eine Phrase. Dauernd gibst du nur Phrasen und Werbebotschaften von dir.
3 Wenn wir ins Hotel zurückkommen, wird es da nichts mehr zu essen geben. Das ist das, was ich befürchte.
4 Gehen wir zurück. Das ist mein Vorschlag.
1 In die Dunkelheit hineinzugehen? Das ist dein Vorschlag?
5 Ich sage euch, welchen Fehler wir gemacht haben. Wir hätten nie den Fluss überqueren dürfen.
Wir hätten nie über diese Brücke gehen dürfen. Jetzt ist es zu spät.
2 Warum sagst du das? Jetzt ist es zu spät.
5 Jetzt ist es zu spät.
2 Warum sagst du das?
4 Ich habe Jennifer versprochen, sie anzurufen, sie wird schon auf den Anruf warten, das haben wir so vereinbart, egal wo ich bin, ich rufe sie jedes Mal gegen elf Uhr an.
6 Diese Stadt erinnert mich an die Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Ich habe mir geschworen, nie mehr eine Stadt mit weniger als einhunderttausend Einwohnern zu betreten.
3 Ich kenne solche Viertel. Ich kenne das wirklich gut.
4 Ich habe keine Angst.
3 Aber ich.
4 Ich habe Jennifer heute zum ersten Mal nicht angerufen.
1 Ich würde mir gern morgen die Altstadt ansehen. Und den Dom.
6 Ich mache um jeden Dom einen Bogen.
2 Den ganzen Tag reden wir über Effizienz und dann passiert uns so etwas.
3 Hauptsache, ich muss nicht zu Hause sein, hauptsache, ich muss abends nicht nach Hause.
Darüber bin ich wirklich froh.
2 Das interessiert mich nicht.
3 Ich habe gedacht, wir sind Freunde.
2 Mich interessiert nicht, was in deinem Leben schief gegangen ist. Mich interessiert auch nicht, was in dieser Stadt schief gegangen ist. Steig nicht auf die Mauer, sei nicht neugierig, schau nicht auf die andere Seite. Daran habe ich mich immer gehalten.
4 Gehen wir jetzt.
1 Ja.
6 Warten wir noch einen Augenblick.
5 Spürt ihr das?
3 Der Wind wird stärker.
1 Das wird ein Sturm.
4 Woher sollte plötzlich ein Sturm?
2 Ich habe noch immer keinen Empfang. Null. Hat jemand von euch schon Empfang?
5 Spürt ihr die Regentropfen?
4 Woher sollte plötzlich ein Regen?
1 Da ist was, da vorn. Zwischen den Häusern.
6 Wo?
5 Da ist was.
3 Ich sehe nichts. Dunkelheit. Außer Dunkelheit sehe ich nichts.
4 Was ist das?
1 Das ist.
2 Das sieht aus wie.
4 Das gibt es doch nicht.
3 Jetzt sehe ich es auch. Ich sehe es auch. Ich sehe es.
6 Was ist das?
4 Das gibt es doch nicht.
2 Das sieht aus wie.
5 Das schaffen wir nicht mehr.