Ressource Liebe
Postkarte zur Uraufführung am Staatstheater Stuttgart 2006, Regie: Sebastian Röhrle
© S. Fischer Verlag, Aufführungsrechte S. Fischer Verlag Theater & Medien
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Textausschnitt
1
LINE Eigentlich wollte ich kündigen, ich wollte mich von dieser Firma trennen, aber als wir in das neue Firmengebäude gezogen sind, da habe ich mich Hals über Kopf in dieses Gebäude verliebt. Ich verstehe es selbst nicht, aber ich bin total in dieses Gebäude verliebt. Als ich es zum ersten Mal betreten habe, als ich durch die Eingangshalle gegangen bin, da muss es passiert sein.
EVA Aber so was passiert doch nicht einfach so.
DANIEL Ja. Das passiert doch nicht einfach.
LINE Ich habe keine Ahnung, wie es passiert ist.
MAREN Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt? Ich bin deine beste Freundin. Warum erzählst du mir das erst jetzt?
LINE Eigentlich hatte ich die feste Absicht zu kündigen. Ich hatte mir vorgenommen, sobald wie möglich zu kündigen. Ich hatte mir vorgenommen, vernünftig zu handeln.
TOM Ja. Dann handle doch vernünftig.
EVA Willst du jetzt nicht mehr kündigen?
LINE Ich kann jetzt nicht mehr kündigen.
MAREN Du kannst jederzeit kündigen.
DANIEL Du kannst immer noch vernünftig handeln.
LINE Ich wollte kündigen, weil ich von dieser Firma ausgenützt werde. Schon seit meinem ersten Arbeitstag in dieser Firma werde ich von dieser Firma ausgenützt.
MAREN Das hast du nie erzählt. Warum hast du mir das nie erzählt?
DANIEL Andere in dieser Firma werden auch ausgenützt.
TOM Es ist nichts Besonderes, in dieser Firma ausgenützt zu werden.
LINE Ich wollte kündigen, weil ich das Gefühl hatte, von dieser Firma ausgenützt zu werden. Aber seitdem ich in dieses Gebäude verliebt bin, habe ich dieses Gefühl nicht mehr. Ich habe nicht mehr das Gefühl, ausgenützt zu werden.
EVA Aber du wirst immer noch ausgenützt.
LINE Jetzt bin ich mir da nicht mehr sicher.
TOM Warum sollte sich das geändert haben?
LINE Vielleicht verbringe ich immer noch zu viele Stunden in meinem Büro in dieser Firma und bringe zu viel von mir selbst ein. Vielleicht hat sich meine Lage in dieser Firma nicht geändert, aber ich habe das Gefühl, dass sie sich geändert hat.
MAREN Ich weiß nicht, ob du diesem Gefühl vertrauen kannst.
EVA Du solltest diesem Gefühl misstrauen.
LINE Ich will diesem Gefühl nicht misstrauen. Ich will einem positiven Gefühl nicht misstrauen. Warum sollte ich denn etwas Positivem misstrauen? Wer ist denn so dumm, etwas Positivem zu misstrauen?
DANIEL Vor ein paar Tagen noch wolltest du kündigen.
EVA Und jetzt willst du das nicht mehr.
DANIEL Du wolltest es und warst kurz davor, es zu tun, aber jetzt willst du es plötzlich nicht mehr. Da ist doch irgendwas schief gegangen.
TOM Ja. Da ist irgendwas schief gegangen.
DANIEL Ja. Da ist was schief gegangen und man muss sich fragen, was ist da schief gegangen?
LINE Vielleicht ist da was schief gegangen, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.
TOM Du hast eine Entscheidung, die du getroffen hast, wieder zurückgenommen. Ich finde das traurig, wenn einmal getroffene Entscheidungen wieder rückgängig gemacht werden. Das ist traurig und schwach.
LINE Aber ich kann jetzt nicht mehr kündigen. Wenn ich ihnen sagen würde, dass ich von morgen an nicht mehr komme, dann müsste ich alle Dinge auf meinem Schreibtisch in meine Tasche packen, ich müsste alle persönlichen Gegenstände mitnehmen. Ich dürfte mein Büro nicht mehr betreten, ich dürfte dieses Gebäude nicht mehr betreten. Man würde mir verbieten, dieses Gebäude noch einmal zu betreten. Aus Gründen der Sicherheit. Das verstehe ich. Obwohl ich es nicht verstehen würde. Man würde mir das alles verbieten und das würde ich nicht aushalten.
MAREN Ich bin auf deiner Seite. Das weißt du. Ich bin immer auf deiner Seite, auch dieses Mal. Obwohl ich eigentlich mit meiner Firma solidarisch sein müsste.
LINE Was heißt das, solidarisch mit deiner Firma?
MAREN Ich müsste mich mit meiner Firma identifizieren.
EVA Aber das tust du doch.
MAREN Aber nicht genügend. Wenn ich zu Line halte, wenn ich ihre Partei ergreife, dann identifiziere ich mich zu wenig mit meiner Firma. Und das könnte mir meine Firma zum Vorwurf machen. Und wahrscheinlich hätte sie damit recht. Ich identifiziere mich nicht zu hundert Prozent mit meiner Firma, aber das ist das, was ich unterschrieben habe.
TOM Das hast du unterschrieben?
MAREN Ja.
TOM Warum hast du das unterschrieben?
MAREN Ganz am Ende haben sie mir noch einen speziellen Zusatzvertrag hingelegt. Ich glaube, da stand das drin. Ich war schon so müde und unkonzentriert, ich konnte diesen Vertrag einfach nicht mehr lesen. Aber irgendwas über Identifikation stand da drin.
DANIEL Du hast was unterschrieben, was du davor nicht gelesen hast, das hättest du nicht tun sollen.
MAREN Aber es ist eben passiert und jetzt kann ich es nicht mehr rückgängig machen. Ich identifiziere mich zu hundert Prozent mit meiner Firma. Ja. Das habe ich unterschrieben.
EVA Im Grunde genommen ist es schön, dass du dich verliebt hast. Irgendwie ist es schön. Obwohl es so kompliziert ist.
LINE Es ist nicht kompliziert.
EVA Sei froh, dass es kompliziert ist. Wenn es nicht kompliziert ist, dann hat man dauernd das Gefühl, dass dabei etwas fehlt.
DANIEL Das stimmt. Wenn es nicht kompliziert ist, dann ist es irgendwie nicht vollständig.
MAREN Ich würde auch gern erzählen können, dass ich verliebt bin. Das heißt, ich bin verliebt, aber ich kann es nicht erzählen. Das heißt, ich kann nicht erzählen, in wen. Das muss geheim bleiben.
TOM Warum muss das geheim bleiben?
MAREN Nicht einmal das kann ich erzählen. Ich kann nur so viel sagen, ich bin verliebt, aber alles andere muss geheim bleiben.
EVA Muss es geheim bleiben, weil es jemand aus der Firma ist?
MAREN Dazu darf ich nichts sagen. Aber es stimmt. Es ist jemand aus der Firma. Und deshalb muss es geheim bleiben.
LINE Du hast jedes Mal eine Beziehung mit jemandem aus der Firma. Du hast jedes Mal eine interne Beziehung und jedes Mal muss es geheim bleiben.
MAREN Wir telefonieren. Das darf ich erzählen. Wir telefonieren mehrmals am Tag. Vier Mal bis fünf Mal am Tag. Und wir vereinbaren, wann wir wieder telefonieren.
DANIEL Und wie profitierst du von dieser Beziehung?
MAREN Ich profitiere davon, aber ich könnte jetzt nicht genau sagen, in welcher Weise.
DANIEL Woher weißt du dann, dass du davon profitierst?
MAREN Ich profitiere davon, aber es muss geheim bleiben, dass ich davon profitiere.
2
LINE Bisher waren Gebäude für mich entweder alt oder neu, entweder schön oder hässlich, aber nicht mehr. Gebäude waren einfach nur große Gebilde, in denen man arbeitet oder wohnt. Irgendwelche Gebilde in der Stadt, in denen irgend etwas untergebracht ist. Aber jetzt habe ich mich in ein Gebäude verliebt. Das ist mir noch nie in meinem Leben passiert und ich weiß nicht, wie es passiert ist. Aber ich war noch nie so verliebt.
EVA Das liegt an der Architektur.
TOM Selbstverständlich liegt es an der Architektur.
EVA An dieser ganz besonderen Architektur.
DANIEL Was ist an dieser Architektur Besonderes? Ich finde nicht, dass diese Architektur irgend etwas Besonderes hat.
MAREN Diese Architektur ist zeitgenössisch.
TOM Selbstverständlich ist sie zeitgenössisch.
EVA Das ist nicht selbstverständlich. Die Architektur dieses Gebäudes ist zeitgenössisch und das ist nicht selbstverständlich.
MAREN Dieses Gebäude ist überall abgebildet. In jeder Zeitung wird darüber berichtet. Die Architektur ist großartig.
DANIEL Nur weil darüber berichtet wird, ist die Architektur dieses Gebäudes nicht großartig. Nicht notwendigerweise.
EVA Du hast ein Problem mit zeitgenössischer Architektur.
DANIEL Das habe ich nicht.
TOM Ganz offensichtlich hast du ein Problem damit. Das tut mir leid für dich. Ganz offensichtlich löst diese Architektur nichts in dir aus.
DANIEL Das stimmt. Diese Architektur löst nichts in mir aus und ich bin froh, dass diese Architektur nichts in mir auslöst.
MAREN Diese Architektur löst nichts in dir aus, weil du nicht sensibilisiert dafür bist.
DANIEL Ich weiß nicht, warum du das sagst. Warum sagst du, dass ich nicht sensibel bin? Sensibel zu sein, gehört zu meinen Stärken, das ist eine wesentliche Stärke von mir. Extrem sensibel zu sein, gehört zu meinem Persönlichkeitsprofil. Ich bin sensibel und trotzdem löst die Architektur dieses Gebäudes nichts in mir aus.
LINE Ich bin süchtig nach diesem Gebäude. Ich bin süchtig nach der Eingangshalle. Ich bin süchtig danach, mit den gläsernen Liften zu fahren. Ich bin süchtig danach, durch die Gänge zu gehen. Ich bin süchtig nach der Caféteria.
EVA Ich respektiere das. Aber ich finde es trotzdem nicht gut, dass du süchtig danach bist.
MAREN Ja. Du solltest nicht danach süchtig sein.
TOM Vielleicht wird diese Sucht irgendwann zu einem Problem.
DANIEL Das stimmt. Das wird zu einem Problem für dich werden.
LINE Ich finde es auch nicht gut, nach etwas süchtig zu sein, wenn man daran denkt, welche Begleiterscheinungen eine Sucht mit sich bringt. Eine Sucht bringt immer hässliche Begleiterscheinungen mit sich. Und ich will nicht, dass man mich für eine Süchtige hält, dass man zu mir sagt, ich sei eine Süchtige. Ich will nicht für eine willensschwache Süchtige gehalten werden. So ein Bild möchte ich nicht vermitteln.
EVA Ich glaube aber, du vermittelst dieses Bild.
LINE So ein Bild vermittle ich nicht.
DANIEL Aber du wirst sehr bald so ein Bild vermitteln.
LINE Ich weiß auch nicht, wie das passiert ist. Ich bin süchtig und ich kann nichts dagegen tun.
TOM Daran ist diese Architektur schuld.
DANIEL Wenn man empfänglich dafür ist.
EVA Das ist nicht irgendeine zeitgenössische Architektur. Das ist eine ganz spezielle zeitgenössische Architektur.
DANIEL Eine ganz spezielle zeitgenössische Architektur, die irgendwas im Schilde führt.
MAREN Was soll denn diese Architektur im Schilde führen?
DANIEL Diese Architektur beabsichtigt etwas. Sie beabsichtigt etwas und ich kann nicht genau sagen, was. Das ist doch offensichtlich, dass diese Architektur etwas beabsichtigt.
TOM Das stimmt. Irgendwas beabsichtigt diese Architektur.
MAREN Und was beabsichtigt sie?
LINE Diese Architektur beabsichtigt doch nur, dass es dir gut geht. Diese Architektur will doch nur, dass es dir gut geht, wenn du das Gebäude betrittst und wenn du es wieder verlässt.
DANIEL Das kann sein. Aber vielleicht beabsichtigt diese Architektur auch viel mehr. Vielleicht hat diese Architektur böse Absichten.
LINE Das glaube ich nicht.
DANIEL Das glaube ich schon.
LINE Seitdem ich in das Gebäude verliebt bin, komme ich am Morgen früher und bleibe abends länger. Ich investiere mehr Zeit in meine Arbeit und ich habe mehr Freude an meiner Arbeit. Ich bin konzentrierter als früher. Und vor allem fühle ich mich jetzt viel kreativer. Ich bin jetzt einfach kreativer. Und darauf bin ich stolz. Ich bin stolz auf meine gesteigerte Kreativität.
MAREN In einer Woche ist es vielleicht wieder vorbei.
EVA In einer Woche ist dieses Gefühl wieder weg. Als wäre es nie da gewesen.
LINE Nein. Das geht nie wieder weg.
DANIEL Und dann? Was machst du dann, wenn es wieder vorbei ist?
TOM Du musst Enttäuschungen vermeiden. Du musst um jeden Preis Enttäuschungen vermeiden und das steuert auf eine große Enttäuschung zu.
MAREN Ja. Das steuert auf eine riesige Enttäuschung zu.
TOM Das oberste Gebot lautet, Enttäuschungen zu vermeiden.
EVA Und du hältst dich nicht an dieses Gebot.
TOM Ja. Du verhältst dich nicht rational. Du verhältst dich einfach nicht rational.
LINE Mein Leben hat sich durch diese Liebe vollkommen verändert. Ich habe nicht mit so etwas gerechnet.
EVA Du sprichst die ganze Zeit von Liebe und von mir selbst weiß ich, dass man, wenn man versucht, von diesem Gefühl zu erzählen, damit aber manchmal unbewusst versucht, eine Depression zu beschreiben.
DANIEL Vielleicht ist es eine Depression. Daran habe ich auch schon gedacht. Vielleicht hast du zurzeit eine Depression.
EVA Du glaubst, es ist Liebe, und dabei ist es eine Depression. Es ist nur auf den ersten Blick Liebe. Aber wenn man ein zweites und ein drittes Mal hinsieht, dann erkennt man, dass es doch wieder nur eine Depression ist. Jedes Mal, wenn ich verliebt war, dann ging das nicht gut aus. Es ging einfach nie gut aus. Und vielleicht lag es daran, dass die Liebe eine Depression war.
MAREN Auch diese Liebe zu dieser internen Beziehung könnte eine Depression sein. Ich bin mir da nicht in jedem Augenblick sicher. Und deshalb muss ich mich regelmäßig fragen, ist das jetzt Liebe oder eine Depression?
LINE Ja. Dann frag dich das.
MAREN Das frage ich mich auch.
LINE Frag dich das ruhig. Aber meine Liebe ist keine Depression. Das weiß ich. Das spüre ich. Diese Liebe ist etwas Wunderbares. Diese Liebe ist etwas Positives.
TOM Aber diese Liebe, die du beschreibst, die ist nicht gut für deine Arbeitsbiographie.
DANIEL So eine Liebe kann man nicht in einen Lebenslauf schreiben.
TOM So etwas kann deiner Arbeitsbiographie schaden.
DANIEL Du darfst auf keinen Fall Privatbiographie und Arbeitsbiographie vermischen.
TOM Wenn du dich das nächste Mal bewirbst, dann musst du eine perfekte Arbeitsbiographie vorlegen können.
LINE Aber ich werde mich nicht woanders bewerben. Ich werde diese Firma nicht wechseln.
TOM Wenn du dich nicht regelmäßig bewirbst, dann weißt du nicht, wo du stehst. Ich verschicke dauernd Bewerbungen. Und ich gehe zu Bewerbungsgesprächen. Obwohl ich diese Firma auch nicht wechseln will. Ich will nicht von dieser Firma weg. Im Gegenteil will ich in dieser Firma in die Schlüsselpersonengruppe kommen.
DANIEL Seit wann willst du in die Schlüsselpersonengruppe? Darüber hast du noch nie gesprochen.
MAREN Ich verstehe, dass du in die Schlüsselpersonengruppe willst, weil das jeder will. Aber das ist doch nicht so einfach.
TOM Das ist nicht einfach, aber mit meinen Qualifikationen kann ich das schaffen. Ich will nicht das Gefühl haben zu stagnieren. Ich muss in die Schlüsselpersonengruppe kommen.
EVA Und was machst du dann in der Schlüsselpersonengruppe? Was machst du dann da?
DANIEL Ich finde das seltsam, dass du plötzlich davon sprichst, dass du in die Schlüsselpersonengruppe willst. Das ist verwirrend. Weil du noch nie davon gesprochen hast. Ich habe immer angenommen, dass dich das nicht interessiert. Warum interessiert dich das jetzt? Das verwirrt mich.
LINE Ich weiß, ich sollte auch über die Schlüsselpersonengruppe nachdenken und wie ich da hinein kommen könnte, aber ich kann zurzeit nicht darüber nachdenken.
MAREN Ich kann dir dabei nicht helfen. Ich bin deine beste Freundin, aber im Moment habe ich so viel mit dieser internen Beziehung zu tun. Ich habe Angst, dass ich einen Anruf versäume. Er spricht nicht auf den Anrufbeantworter, aus Prinzip nicht. Also darf ich auf keinen Fall das Läuten überhören. Das darf auf keinen Fall passieren. Wenn ich das Läuten überhöre, dann habe ich ein Problem. Und ich kann jetzt kein Problem brauchen.
3
LINE Seitdem wir in dieses neue Gebäude gezogen sind, spüre ich eine irrsinnig starke Sehnsucht nach Romantik. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal eine so starke Sehnsucht nach Romantik empfinden würde. Ich habe immer gedacht, dass ich so eine Sehnsucht nach Romantik nicht brauche.
EVA Natürlich brauchst du diese Sehnsucht nach Romantik nicht.
LINE Dieses Gebäude hat in mir eine Sehnsucht nach Romantik geweckt.
TOM Warum hast du das zugelassen?
DANIEL Dagegen hättest du kämpfen müssen.
TOM Warum hast du nicht dagegen gekämpft und das unterdrückt und so lange unterdrückt, bis es vorüber ist?
LINE Ich war so überrascht von dieser plötzlichen Sehnsucht nach Romantik, dass ich nichts dagegen unternommen habe.
MAREN Wenn du nicht dagegen kämpfst und dich einfach geschlagen gibst, dann mindert diese Sehnsucht nach Romantik dein kritisches Urteilsvermögen.
EVA Eine unbändige Sehnsucht nach Romantik kann dein kritisches Urteilsvermögen herabsetzen.
TOM Aber genau aufgrund dieser Fähigkeit bist du in dieser Firma eingestellt worden.
LINE Das weiß ich. Und ich habe auch Angst, diese Sehnsucht nach Romantik könnte mein kritisches Urteilsvermögen mindern. Aber diese Sehnsucht sitzt jetzt in mir und ich werde sie nicht mehr los.
DANIEL Diese Sehnsucht nach Romantik kann deine Sehnsucht nach Karriere verdrängen.
EVA Wenn deine Sehnsucht nach Karriere nicht stark genug ist, dann wird sie von dieser plötzlichen Sehnsucht nach Romantik zur Seite gedrängt, und was passiert dann?
MAREN Ja. Was passiert in so einem Fall?
DANIEL Ich möchte nicht, dass meine Sehnsucht nach Karriere von einer Sehnsucht nach Romantik verdrängt wird. Das finde ich nicht gut.
MAREN Ich möchte auch auf keinen Fall, dass mir das passiert. Aber vielleicht ist die Sehnsucht nach Romantik nur eine andere Erscheinungsform der Sehnsucht nach Karriere.
EVA Das könnte sein.
MAREN Und man hat höllische Angst vor dieser Sehnsucht nach Romantik und dabei ist es nur die Sehnsucht nach Karriere. Und man könnte sich diese ganze Angst sparen.
DANIEL Aber wenn irgendwas meine Sehnsucht nach Karriere bedroht, ist es nur natürlich, dass ich Angst empfinde.
TOM Wenn die Sehnsucht nach Karriere plötzlich verschwinden würde, wenn man irgendwann feststellen würde, dass man keine Sehnsucht nach Karriere mehr empfindet, das wäre verrückt.
MAREN Die Sehnsucht nach Karriere kann dir niemand wegnehmen.
EVA Doch. Vielleicht doch. Vielleicht geht das.
DANIEL Ich will nicht, dass mir irgendjemand oder irgend etwas meine Sehnsucht nach Karriere wegnehmen kann.
MAREN Vielleicht stellst du irgendwann fest, dass deine Sehnsucht nach Karriere nicht mehr da ist. Nicht mehr in dir. Irgendwas hat das verursacht, aber das ist dann ja egal, was das war. Und statt der klaren Sehnsucht nach Karriere ist da jetzt ein Nebel. Ein undurchdringlicher Nebel. Wie der undurchdringlichste Nebel im Herbst. Und dieser Nebel wird auch nicht wieder verschwinden. Und dieser Nebel ist auch nicht produktiv. Dieser Nebel ist keine Alternative zur Sehnsucht nach Karriere.
EVA Ich kenne diese Sehnsucht nach Romantik, aber ich kann diese Sehnsucht nach Romantik unterdrücken. Wenn ich die ersten Anzeichen dafür spüre, dann buche ich ein Weiterbildungsseminar.
TOM Das stimmt. Ein Weiterbildungsseminar ist eine Möglichkeit.
EVA Ich buche ein Intensivseminar.
TOM Das zahlt ohnehin die Firma.
DANIEL Natürlich zahlt das die Firma, weil das ja der Firma zugute kommt.
EVA Ich bekämpfe die Sehnsucht nach Romantik und tue zugleich etwas Gutes für die Firma.
TOM Dieses Gebäude, in dem wir arbeiten, weckt vielleicht eine Sehnsucht nach Romantik, aber selbst ist dieses Gebäude kein romantischer Ort. Ein Gebäude, in dem ausschließlich Dienstleistungsfirmen untergebracht sind, kann kein romantischer Ort sein.
LINE Und warum nicht?
TOM Das geht nicht.
LINE Und warum geht das nicht?
EVA Ich bin froh, dass ich nicht an einem romantischen Ort arbeite. Es fällt mir so schon schwer genug, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. An einem romantischen Ort könnte ich das überhaupt nicht mehr.
MAREN Auch wenn das kein romantischer Ort ist, an dem wir arbeiten, habe ich trotzdem manchmal mitten in einem Meeting ein wahnsinnig starkes Bedürfnis nach weißen Kerzen und leiser Pianomusik.
DANIEL Das glaube ich dir nicht.
EVA Das gibt es doch nicht.
MAREN Ich schäme mich auch dafür. Ja. Ich schäme mich für dieses Bedürfnis. Und ich weiß nicht, wer oder was dieses Bedürfnis in mir geweckt hat. Ich kann dann nur mehr an Kerzenlicht und Pianomusik denken. Und von dem Meeting bekomme ich überhaupt nichts mit. Ich weiß auch, dass ich während dieser Zeit vollkommen abwesend wirke.
TOM Ich hasse diese Restaurants mit Kerzenlicht und Pianomusik.
EVA Ja. Diese Restaurants mit Stimmungsmanagement.
TOM Ich will nicht, dass ein Restaurant meine Stimmung managt.
DANIEL Jedes Restaurant managt deine Stimmung. Dagegen kannst du gar nichts tun. Genauso wie dieses Gebäude deine Stimmung managt. Und bis jetzt ist dir das noch gar nicht aufgefallen.
TOM Natürlich ist mir das aufgefallen.
DANIEL Nein. Das ist dir nicht aufgefallen. Wahrscheinlich hast du die ganze Zeit gedacht, dass deine Stimmung irgendwie in dir entsteht, gleichsam durch einen natürlichen Vorgang. Du hast nicht gedacht, dass deine Stimmung von außen erzeugt wird. Deine Stimmung wird irgendwo in diesem Gebäude erzeugt.
TOM Ja. Das weiß ich.
DANIEL Nein. Das wusstest du nicht.
TOM Doch. Das weiß ich schon lange.
DANIEL Deine Stimmung wird in irgendeinem Büro in diesem Gebäude erzeugt und das wusstest du nicht. Deine Stimmung wird im dritten Stock erzeugt.
LINE Gut. Aber dieses Bedürfnis nach Kerzenlicht und Pianomusik, wird das auch in diesem Gebäude erzeugt?
EVA Das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen.
DANIEL Doch. Das wird auch in diesem Gebäude erzeugt.
EVA Das glaube ich nicht.
MAREN Ich schäme mich dafür. Aber trotzdem beruhigen mich diese Bilder. Diese Bilder wühlen mich nicht auf und dafür bin ich dankbar. Ich genieße diese Bilder von weißen Kerzen auf weißen Tischtüchern und ich genieße die leisen Klänge eines Pianos. Ja. Ich weiß, dass das billig ist. Aber immer dann, wenn in einem Meeting extreme Aufmerksamkeit und extreme Konzentration gefordert sind, weil wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, immer dann habe ich so ein Blackout. Die weißen Kerzen zu sehen und die leise Pianomusik zu hören, das erzeugt in mir ein Gefühl von Unendlichkeit. Und Unendlichkeit ist nur ein anderes Wort für Liebe. Wenn ich also in einem Meeting so ein Blackout habe, dann tauche ich ein in einen Zustand von Geliebtwerden. Diese Meetings vermitteln mir das Gefühl, geliebt zu werden. Und manchmal in einem Meeting warte ich schon auf dieses Blackout, ich kann es dann gar nicht erwarten, endlich wieder dieses Gefühl von Liebe zu spüren.