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Schiffe zählen auf dem Meer

„Schiffe zählen auf dem Meer“ ist ein Stück über den Welthandel und eine Fortschreibung von Kafkas Erzählung ‚Bericht an eine Akademie‘. Während bei Kafka der Affe einer namenlosen Akademie berichtet, wie er zum Varietékünstler wurde, erzählt in diesem Stück ein Schimpanse den Mitarbeiter*innen der Welthandelsorganisation in Genf, wie es ihm gelungen ist, sich aus seinem Käfig auf dem Schiff zu befreien und zum Kapitän des vierhundert Meter langen Containerschiffes zu werden. Statt bei der ersten Gelegenheit zu fliehen und nach Westafrika zurückzukehren, bleibt der Schimpanse auf dem Schiff, um herauszufinden, warum so viele Handelsschiffe auf den Weltmeeren unterwegs sind und was das eigentlich ist, der Welthandel. Getrieben von der Neugier, das Geheimnis zu lüften, wird er zu einem vorbildhaften Kapitän auf der Route zwischen China und Europa. Während am Anfang des Stückes nur der Schimpanse zu Wort kommt, melden sich später auch die Seeleute des Schiffes und mischen sich schließlich auch Stimmen aus der Welthandelsorganisation in Genf ins Gespräch.

 

Textausschnitt

 

DER KAPITÄN:  Verehrte Generaldirektorin

verehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Welthandelsorganisation

Sie erweisen mir die Ehre mich aufzufordern Ihnen einen Bericht über meinen Weg

vom gefangen genommenen und in einen Käfig gesperrten Schimpansen

bis zum Kapitän eines der größten Schiffe der Welt

einzureichen

ich komme dieser Aufforderung gern nach

obwohl ich mir nicht vorstellen kann

welche Erkenntnisse Sie sich davon versprechen

ich bin ein gewöhnlicher Kapitän

wie es auf den Meeren der Welt zigtausend andere gibt

 

DER KAPITÄN:  Ich berichte Ihnen über meinen Weg

ich sage absichtlich nicht Karriere

was mir passiert ist verstehe ich nicht

als besondere Leistung oder Erfolg

der Zufall hat dafür eine zu große Rolle gespielt

Sie wollen wissen warum ich um jeden Preis Kapitän werden wollte

statt bei der erstbesten Gelegenheit zu fliehen und in meine Heimat zurückzukehren

ich werde versuchen Ihnen meine Gründe zu schildern

während ich Ihnen schreibe

stehe ich auf der Brücke meines Schiffes und

schaue in einen wolkenlosen blauen Himmel

der sich über dem Indischen Ozean wölbt

 

DER KAPITÄN:  Ich stamme aus Ghana

das vor langer Zeit als es noch Kolonien gab

als Teil von Britisch-Westafrika Goldküste hieß

tatsächlich hatte ich auch eine goldene Kindheit und Jugend

unbeschwert und glücklich

bis ich eines Tages

als ich an einer Wasserstelle saß und meinen Träumen nachhing

von einem Mann mit einem Betäubungsgewehr gestellt und beschossen wurde

keinen Augenblick lang dachte ich daran zu fliehen

ich war der Meinung dass keine Schimpansen mehr gefangen werden

 

DER KAPITÄN:  Als ich wieder zu Bewusstsein kam

fand ich mich in einem Käfig wieder

wie ich einmal einen in einem Geschichtebuch abgebildet gesehen hatte

ein Käfig mit metallenen Gitterstäben

rund um mich war es dunkel

die Ausmaße des Raumes in dem sich der Käfig befand

konnte ich nicht abschätzen

erst als sich mit der Zeit meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten

erkannte ich dass der Raum etwa sechs Meter lang und zweieinhalb Meter breit und zweieinhalb Meter hoch sein musste

oben unter der Decke waren helle Streifen

durch schmale Schlitze fiel dort Licht und strömte Luft herein

neben meinem befanden sich noch weitere Käfige in dem Raum

manche etwas größer manche kleiner

darin auch andere Tiere

ich konnte sie riechen aber

keines von ihnen reagierte auf meine Rufe

entweder waren sie noch betäubt oder bereits verendet

 

DER KAPITÄN:  Zwei Mal am Tag betrat durch eine Tür aus Metall ein Mann den Raum

er brachte mir zu essen

er stellte den Napf auf den Boden und

schob ihn mit einem Besenstiel zu meinem Käfig

er hatte wohl Angst ich könnte ihn beißen

oft gab es bloß Bananen und

ich hasse Bananen

manchmal erschienen auch zwei Männer

sie unterhielten sich in einer Sprache

die ich bis dahin noch nie gehört hatte

später erfuhr ich dass es philippinisch war

keiner von den Männern die mir zu essen brachten behandelte mich jemals schlecht

sie waren jedes Mal freundlich und gütig

 

DER KAPITÄN:  Nach einiger Zeit erkannte ich

dass sich mein Käfig und

der ganze dunkle Raum darum herum auf einem Schiff befinden mussten

zuerst hatte ich mir das Schaukeln nicht erklären können

schließlich war ich davor noch nie auf einem Schiff gewesen

Schiffe kannte ich nur aus Büchern

es war ein Schiff und

ich war ein Tier in einem Käfig

das irgendwohin transportiert wurde

wohl um dann dort an einen Zoo verkauft zu werden

 

DER KAPITÄN:  Einmal besuchte mich der Kapitän

ich hatte geschlafen und

nicht bemerkt dass die Tür geöffnet worden war

ich erschrak durch einen Stich in meinen Rücken

der Kapitän stand vor meinem Käfig und

stupste mich mit einem langen spitzen Stab

wahrscheinlich um zu schauen ob ich noch am Leben war

es war der erste Kapitän den ich in meinem Leben sah

ich erkannte ihn an seiner Mütze

sie war blendend weiß

selbst in dem dunklen Raum strahlte sie hell

so eine Mütze wollte ich auch einmal haben

um jeden Preis

die gleiche Mütze

 

DER KAPITÄN:  Es heißt

dass ein Gefangener an nichts anderes denken kann als an Flucht

so erging es mir nicht

abgesehen davon wäre jeder Fluchtversuch zwecklos gewesen

ich wollte vielmehr etwas begreifen

ich wollte das Rätsel lösen

das Rätsel meiner Gefangenschaft

das Rätsel des Schiffes

schon in der Schule war ich von allen Schülern

der neugierigste und wissbegierigste gewesen

 

DER KAPITÄN:  Selbstmord erschien mir sinnlos

abgesehen davon

dass ich gar nicht wusste wie ich den Selbstmord durchführen hätte sollen

hätte ich die Luft anhalten

den Kopf gegen die Gitterstäbe schlagen

mir die Pulsadern aufschneiden sollen?

wie und womit?

Selbstmord war keine Option

dann hätte ich ja auch das Geheimnis nie gelüftet

ich hätte nie erfahren was das alles bedeutete

was war das für ein Schiff?

ein Segelschiff? ein Dampfschiff? ein Schiff mit einem Dieselmotor?

war es ein Kriegsschiff? ein Handelsschiff? ein Sklavenschiff? und

wohin war es unterwegs?

 

DER KAPITÄN:  Die Fahrt

so kam es mir in meinem Gefängnis vor

dauerte unendlich lang

ein Schaukeln ein monotones Auf und Ab

von den anderen Tieren in den Käfigen hatte keines überlebt

hatte ich mir am Anfang noch vorgenommen

die Stunden und Tage meiner Gefangenschaft zu zählen

gab ich das bald auf

das Zählen änderte nichts an meiner Lage

 

DER KAPITÄN:  Dann

nach zwei oder drei Wochen

geschah etwas Überraschendes

einer der philippinischen Seeleute

die mir das Essen brachten

öffnete meinen Käfig

zuerst dachte ich an eine Falle

ich war skeptisch aber

dann verstand ich

dass dem Mann langweilig war

er suchte nach Abwechslung und Unterhaltung

er sprach mit mir

philippinisch und

ich kannte ja kein einziges Wort dieser Sprache aber

dann verstand ich plötzlich dass er von mir wollte

dass ich Kunststücke machte um ihn zu unterhalten

ich beherrsche keine Kunststücke

niemand hatte mir jemals Kunststücke beigebracht

also versuchte ich zu tanzen

was komisch ausgesehen haben musste

der Mann bekam einen Lachanfall

er schlug sich auf die Schenkel

er schüttelte den Kopf und

schob mich zurück in den Käfig

 

DER KAPITÄN:  Der Mann kam wieder

öffnete abermals den Käfig und

wartete welches Kunststückchen ich mir heute einfallen ließ

als ich nichts dergleichen unternahm

holte er sein Handy heraus tippte irgendwas darauf und

plötzlich erklang Musik

ich verstand dass ich zu der Musik tanzen sollte

der Mann hatte als er den dunklen Raum betreten hatte vergessen

die Tür hinter sich zu schließen

nachdem ich ein paar Schritte durch den Raum getanzt hatte

so im Stil des jungen Michael Jackson

erkannte ich meine Chance

ich sprang durch die Tür ins Freie

ich war draußen und

gerettet

 

DER KAPITÄN:  Ich war frei aber

wenn ich mich jetzt nicht klug verhielt

fing man mich gleich wieder ein

vor mir und unter mir und neben mir befanden sich tausende Container

aufgeschichtet zu hohen Türmen

ich kannte solche Container aus dem Internet

ich trommelte mit meinen Fäusten dagegen

alle aus Metall

ich kletterte an den Türmen so weit hinauf wie ich konnte

auch wenn mich die Seeleute von unten entdecken mochten

kamen sie doch nie so weit hinauf

die ersten Tage verbarg ich mich hinter einem blauen Container mit der Aufschrift Maersk

ich hörte wie die Männer unten nach mir riefen

sie lockten mich

zuerst mit Bananen

dann mit Schokolade

dann mit Rum aber

ich fiel auf ihre Tricks nicht herein

 

DER KAPITÄN:  Am nächsten Tag wurde ich Zeuge

wie der Kapitän die ganze Mannschaft antreten ließ

er schrie

er brüllte mit dem Seemann der die Tür offen gelassen hatte

er drohte ihm mit furchtbarer Strafe

mit Gefängnis und Schlimmerem

wenn es ihm und den anderen nicht gelang

mich einzufangen

wahrscheinlich war ich einiges an Geld wert

dass man solches Aufheben um mich machte

 

DER KAPITÄN:  Ich sprang von Containerturm zu Containerturm

ich lief auf den schmalen eisernen Stegen zwischen den Containern hin und her

ich kletterte über die Reling und

hielt mich dabei bloß mit einer Hand fest

unter mir das schäumende Meer

wenn ich nicht gewollt hätte

man hätte mich nie gefangen

ich hörte die Schritte der Männer schon von weitem

ich brauchte nur hinter einem Container zu verschwinden

in der Kombüse stahl ich Pommes frites

aus der Kajüte eines Seemanns eine warme Jacke

die Seeleute suchten fieberhaft nach mir

sie lockten mich sie drohten mir sie fluchten über mich aber

auch über ihren Kapitän

der sie den ganzen Tag zur Arbeit antrieb und

nun auch antrieb einen Schimpansen einzufangen

 

DER KAPITÄN:  Da entdeckte ich eines Tages

als ich hoch oben auf den Containern turnte

um meine Muskeln kräftig und meine Glieder gelenkig zu halten

direkt unter mir auf dem Deck den Kapitän

er stand an die Reling gelehnt und sah aufs Meer

in der Ferne kreuzte ein anderes Schiff unseren Kurs

da beschloss ich

auf seine Schultern zu springen und ihm die Mütze vom Kopf zu reißen

bloß so

um ihm einen Schrecken einzujagen

ich ließ mich von hoch oben fallen und landete auf seinen Schultern

im selben Augenblick hatte ich ihm auch schon die Kapitänsmütze vom Kopf gerissen aber

der Mann war so heftig erschrocken

dass er das Gleichgewicht verlor und

bei dem Versuch sich abzustützen

griff er ins Leere

die physikalischen Kräfte die auf seinen Körper wirkten

hoben ihn in die Höhe und

kippten ihn wie ein langes flaches Brett über die Reling hinaus ins Leere

er stürzte

ohne einen Schrei von sich zu geben

in den Ozean

als ich zur Reling hinsprang um ihn zu retten war er schon auf dem Weg nach unten

ich sah ihn im Wasser treiben und

immer weiter weg vom Schiff

wahrscheinlich rief er um Hilfe

so hoch oben wie ich mich befand konnte ich nichts hören

ich stand an der Reling und

hielt seine Mütze in der Hand

 

DER KAPITÄN:  Was jetzt tun? mich verstecken? mich stellen?

mich selbst ins Wasser stürzen?

drei Tage lang hockte ich hinter einem Container und

wagte nicht mich zu rühren

verzweifelt wurde von den Seeleuten nach ihrem Kapitän gesucht

Rufe erschallten

sein Name wurde geschrien

niemand wollte glauben dass er über Bord gegangen sein konnte

am vierten Tag beschloss ich mit dem Versteckspiel aufzuhören und

mich zu zeigen

ich setzte die Kapitänsmütze auf und

stellte mich auf das Dach eines Containers

an einer Stelle wo ich sofort entdeckt werden musste

so kam es auch

die Mannschaft lief zusammen

alle zeigten auf mich

zwei von ihnen warfen sogar mit Kartoffeln und einer leeren Flasche Wodka nach mir

ich ließ mich nicht vertreiben

dann hielt ich wie ich es mir vorgenommen hatte eine Rede

in englisch

das war schließlich die Bordsprache

englisch hatte ich von meinem Großvater gelernt

der es wiederum von seinem Großvater hatte

der an der Goldküste noch unter der Besatzung der Engländer gelebt hatte

 

DER KAPITÄN:  Ich erzählte

dass ich die Mütze gefunden hatte

am obersten Deck und

dass ich überall nach dem Kapitän gesucht hatte

ihn aber nirgendwo hatte finden können

was hätte die Mannschaft anderes tun sollen als mir zu glauben?
sie hatten nichts was das Gegenteil bewiesen hätte

ich sah wie sie die Köpfe zusammensteckten und diskutierten

einer schüttelte die Faust gegen mich aber

schließlich setzten sich jene durch die bereit waren mir zu glauben

ich rief: Ich bin jetzt Euer Kapitän

ich werde meine Aufgabe so gut erledigen wie ich nur kann

so gut wie Euer alter Kapitän

ich werde meine Pflicht erfüllen

wir werden den Kurs beibehalten und

die Ladung sicher an den Zielhafen bringen

wir werden den Zeitplan einhalten

wir werden unser Bestes geben

niemand wird sich über uns beklagen können

 

DER KAPITÄN:  Als sie sich gefasst hatten

beschlossen sie abzustimmen

das Ergebnis fiel zu meinen Gunsten aus

fünfzehn zu sieben für mich

die sieben Gegenstimmen revoltierten nicht sie akzeptierten ihre Niederlage und

schlossen sich in ihrer Meinung jetzt der Mehrheit an

damit war ich als Kapitän bestätigt

ich zog in die Kapitänskajüte

die Kleider des alten Kapitäns mussten umgeändert und

auf meine Körpermaße angepasst werden

einer der philippinischen Seeleute hatte von seiner Mutter das Schneiderhandwerk gelernt

er übernahm die Aufgabe

 

DER KAPITÄN:  Gleich am ersten Abend veranstaltete ich an Deck ein großes Barbecue

der Koch legte die besten Steaks aus dem Kühlraum auf den Grill

dem Ersten Offizier befahl ich Rum auszuschenken

ich ermunterte die Mannschaft zum Tanzen

einer von ihnen holte aus seiner Kajüte sein Soundsystem

aus den Boxen erklang HipHop aus Manila

wir hoben unser Glas und

tranken auf die Seele des verunglückten Kapitäns

STIMMEN DER SEELEUTE:

– Auf den alten Kapitän

– Auf den neuen Kapitän

– Auf unser schönes Schiff

– Ein schönes Schiff geht niemals unter

– Auf die Schifffahrt

– Auf die Zivilisation

DER KAPITÄN:  Die Party dauerte die ganze Nacht

um fünf Uhr erschien die Sonne am Firmament

es war der schönste Sonnenaufgang meines Lebens

 

DER KAPITÄN:  Die Mannschaft war

das erkannte ich gleich

eine gute Mannschaft

es sind großartige Seeleute

sie kommen von den Philippinen aus Indien aus Sri Lanka

Bordsprache ist englisch aber

fast alle sprechen auch noch andere Sprachen

STIMMEN DER SEELEUTE:

– Ich lerne abends in meiner Kajüte deutsch

– Ich auch

– Ich lerne chinesisch

– Ich verbessere mein Englisch

– Ich lerne Blockflöte

– Ich lerne nichts ich schaue nur fern

– Ich schaue nur aufs Meer

– Wozu soll sich ein Seemann bilden?

– Ich studiere Wirtschaftswissenschaften Fernstudium natürlich

– Was willst du einmal werden?

– Seemann

 

DER KAPITÄN:  Ich stellte das Schiff auf Autopilot

unser Zielhafen war Hamburg

der Autopilot würde uns sicher dorthin bringen

das Schiff fuhr mit 22 Knoten

STIMMEN DER SEELEUTE:

– 21 Knoten

DER KAPITÄN:  Die Maschine hatte 80000 PS

STIMMEN DER SEELEUTE:

– Annährend 80000

– Nicht ganz 80000

DER KAPITÄN:  Die Maschinen fraßen 300 Tonnen Öl am Tag

STIMMEN DER SEELEUTE:

– Bestes Schweröl

– Bestes Schweröl das schmutziger ist als alles andere

– Das Dreckigste vom Dreckigen

DER KAPITÄN:  Unser Schiff fuhr unter der blau-weiß-roten Flagge von Panama

damals fragte ich mich noch nicht warum eigentlich unter dieser Flagge

STIMMEN DER SEELEUTE:

– Wahrscheinlich weil sie so hübsche Farben hat

– Jedes siebte Frachtschiff auf der Welt fährt unter der Flagge Panamas

– Panama ist ein schönes Land

– Panama hat einen schönen Kanal

DER KAPITÄN:  Panama erinnerte mich an meinen Vater

als ich ein Kind war hatte er mir ‚Oh wie schön ist Panama‘ vorgelesen

wenn ich an meinen Vater dachte wurde ich traurig

trotzdem wollte ich nicht nach Hause

 

Ende des Textausschnitts