Schiffe zählen auf dem Meer
Textausschnitt
DER KAPITÄN: Verehrte Generaldirektorin
verehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Welthandelsorganisation
Sie erweisen mir die Ehre mich aufzufordern Ihnen einen Bericht über meinen Weg
vom gefangen genommenen und in einen Käfig gesperrten Schimpansen
bis zum Kapitän eines der größten Schiffe der Welt
einzureichen
ich komme dieser Aufforderung gern nach
obwohl ich mir nicht vorstellen kann
welche Erkenntnisse Sie sich davon versprechen
ich bin ein gewöhnlicher Kapitän
wie es auf den Meeren der Welt zigtausend andere gibt
DER KAPITÄN: Ich berichte Ihnen über meinen Weg
ich sage absichtlich nicht Karriere
was mir passiert ist verstehe ich nicht
als besondere Leistung oder Erfolg
der Zufall hat dafür eine zu große Rolle gespielt
Sie wollen wissen warum ich um jeden Preis Kapitän werden wollte
statt bei der erstbesten Gelegenheit zu fliehen und in meine Heimat zurückzukehren
ich werde versuchen Ihnen meine Gründe zu schildern
während ich Ihnen schreibe
stehe ich auf der Brücke meines Schiffes und
schaue in einen wolkenlosen blauen Himmel
der sich über dem Indischen Ozean wölbt
DER KAPITÄN: Ich stamme aus Ghana
das vor langer Zeit als es noch Kolonien gab
als Teil von Britisch-Westafrika Goldküste hieß
tatsächlich hatte ich auch eine goldene Kindheit und Jugend
unbeschwert und glücklich
bis ich eines Tages
als ich an einer Wasserstelle saß und meinen Träumen nachhing
von einem Mann mit einem Betäubungsgewehr gestellt und beschossen wurde
keinen Augenblick lang dachte ich daran zu fliehen
ich war der Meinung dass keine Schimpansen mehr gefangen werden
DER KAPITÄN: Als ich wieder zu Bewusstsein kam
fand ich mich in einem Käfig wieder
wie ich einmal einen in einem Geschichtebuch abgebildet gesehen hatte
ein Käfig mit metallenen Gitterstäben
rund um mich war es dunkel
die Ausmaße des Raumes in dem sich der Käfig befand
konnte ich nicht abschätzen
erst als sich mit der Zeit meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten
erkannte ich dass der Raum etwa sechs Meter lang und zweieinhalb Meter breit und zweieinhalb Meter hoch sein musste
oben unter der Decke waren helle Streifen
durch schmale Schlitze fiel dort Licht und strömte Luft herein
neben meinem befanden sich noch weitere Käfige in dem Raum
manche etwas größer manche kleiner
darin auch andere Tiere
ich konnte sie riechen aber
keines von ihnen reagierte auf meine Rufe
entweder waren sie noch betäubt oder bereits verendet
DER KAPITÄN: Zwei Mal am Tag betrat durch eine Tür aus Metall ein Mann den Raum
er brachte mir zu essen
er stellte den Napf auf den Boden und
schob ihn mit einem Besenstiel zu meinem Käfig
er hatte wohl Angst ich könnte ihn beißen
oft gab es bloß Bananen und
ich hasse Bananen
manchmal erschienen auch zwei Männer
sie unterhielten sich in einer Sprache
die ich bis dahin noch nie gehört hatte
später erfuhr ich dass es philippinisch war
keiner von den Männern die mir zu essen brachten behandelte mich jemals schlecht
sie waren jedes Mal freundlich und gütig
DER KAPITÄN: Nach einiger Zeit erkannte ich
dass sich mein Käfig und
der ganze dunkle Raum darum herum auf einem Schiff befinden mussten
zuerst hatte ich mir das Schaukeln nicht erklären können
schließlich war ich davor noch nie auf einem Schiff gewesen
Schiffe kannte ich nur aus Büchern
es war ein Schiff und
ich war ein Tier in einem Käfig
das irgendwohin transportiert wurde
wohl um dann dort an einen Zoo verkauft zu werden
DER KAPITÄN: Einmal besuchte mich der Kapitän
ich hatte geschlafen und
nicht bemerkt dass die Tür geöffnet worden war
ich erschrak durch einen Stich in meinen Rücken
der Kapitän stand vor meinem Käfig und
stupste mich mit einem langen spitzen Stab
wahrscheinlich um zu schauen ob ich noch am Leben war
es war der erste Kapitän den ich in meinem Leben sah
ich erkannte ihn an seiner Mütze
sie war blendend weiß
selbst in dem dunklen Raum strahlte sie hell
so eine Mütze wollte ich auch einmal haben
um jeden Preis
die gleiche Mütze
DER KAPITÄN: Es heißt
dass ein Gefangener an nichts anderes denken kann als an Flucht
so erging es mir nicht
abgesehen davon wäre jeder Fluchtversuch zwecklos gewesen
ich wollte vielmehr etwas begreifen
ich wollte das Rätsel lösen
das Rätsel meiner Gefangenschaft
das Rätsel des Schiffes
schon in der Schule war ich von allen Schülern
der neugierigste und wissbegierigste gewesen
DER KAPITÄN: Selbstmord erschien mir sinnlos
abgesehen davon
dass ich gar nicht wusste wie ich den Selbstmord durchführen hätte sollen
hätte ich die Luft anhalten
den Kopf gegen die Gitterstäbe schlagen
mir die Pulsadern aufschneiden sollen?
wie und womit?
Selbstmord war keine Option
dann hätte ich ja auch das Geheimnis nie gelüftet
ich hätte nie erfahren was das alles bedeutete
was war das für ein Schiff?
ein Segelschiff? ein Dampfschiff? ein Schiff mit einem Dieselmotor?
war es ein Kriegsschiff? ein Handelsschiff? ein Sklavenschiff? und
wohin war es unterwegs?
DER KAPITÄN: Die Fahrt
so kam es mir in meinem Gefängnis vor
dauerte unendlich lang
ein Schaukeln ein monotones Auf und Ab
von den anderen Tieren in den Käfigen hatte keines überlebt
hatte ich mir am Anfang noch vorgenommen
die Stunden und Tage meiner Gefangenschaft zu zählen
gab ich das bald auf
das Zählen änderte nichts an meiner Lage
DER KAPITÄN: Dann
nach zwei oder drei Wochen
geschah etwas Überraschendes
einer der philippinischen Seeleute
die mir das Essen brachten
öffnete meinen Käfig
zuerst dachte ich an eine Falle
ich war skeptisch aber
dann verstand ich
dass dem Mann langweilig war
er suchte nach Abwechslung und Unterhaltung
er sprach mit mir
philippinisch und
ich kannte ja kein einziges Wort dieser Sprache aber
dann verstand ich plötzlich dass er von mir wollte
dass ich Kunststücke machte um ihn zu unterhalten
ich beherrsche keine Kunststücke
niemand hatte mir jemals Kunststücke beigebracht
also versuchte ich zu tanzen
was komisch ausgesehen haben musste
der Mann bekam einen Lachanfall
er schlug sich auf die Schenkel
er schüttelte den Kopf und
schob mich zurück in den Käfig
DER KAPITÄN: Der Mann kam wieder
öffnete abermals den Käfig und
wartete welches Kunststückchen ich mir heute einfallen ließ
als ich nichts dergleichen unternahm
holte er sein Handy heraus tippte irgendwas darauf und
plötzlich erklang Musik
ich verstand dass ich zu der Musik tanzen sollte
der Mann hatte als er den dunklen Raum betreten hatte vergessen
die Tür hinter sich zu schließen
nachdem ich ein paar Schritte durch den Raum getanzt hatte
so im Stil des jungen Michael Jackson
erkannte ich meine Chance
ich sprang durch die Tür ins Freie
ich war draußen und
gerettet
DER KAPITÄN: Ich war frei aber
wenn ich mich jetzt nicht klug verhielt
fing man mich gleich wieder ein
vor mir und unter mir und neben mir befanden sich tausende Container
aufgeschichtet zu hohen Türmen
ich kannte solche Container aus dem Internet
ich trommelte mit meinen Fäusten dagegen
alle aus Metall
ich kletterte an den Türmen so weit hinauf wie ich konnte
auch wenn mich die Seeleute von unten entdecken mochten
kamen sie doch nie so weit hinauf
die ersten Tage verbarg ich mich hinter einem blauen Container mit der Aufschrift Maersk
ich hörte wie die Männer unten nach mir riefen
sie lockten mich
zuerst mit Bananen
dann mit Schokolade
dann mit Rum aber
ich fiel auf ihre Tricks nicht herein
DER KAPITÄN: Am nächsten Tag wurde ich Zeuge
wie der Kapitän die ganze Mannschaft antreten ließ
er schrie
er brüllte mit dem Seemann der die Tür offen gelassen hatte
er drohte ihm mit furchtbarer Strafe
mit Gefängnis und Schlimmerem
wenn es ihm und den anderen nicht gelang
mich einzufangen
wahrscheinlich war ich einiges an Geld wert
dass man solches Aufheben um mich machte
DER KAPITÄN: Ich sprang von Containerturm zu Containerturm
ich lief auf den schmalen eisernen Stegen zwischen den Containern hin und her
ich kletterte über die Reling und
hielt mich dabei bloß mit einer Hand fest
unter mir das schäumende Meer
wenn ich nicht gewollt hätte
man hätte mich nie gefangen
ich hörte die Schritte der Männer schon von weitem
ich brauchte nur hinter einem Container zu verschwinden
in der Kombüse stahl ich Pommes frites
aus der Kajüte eines Seemanns eine warme Jacke
die Seeleute suchten fieberhaft nach mir
sie lockten mich sie drohten mir sie fluchten über mich aber
auch über ihren Kapitän
der sie den ganzen Tag zur Arbeit antrieb und
nun auch antrieb einen Schimpansen einzufangen
DER KAPITÄN: Da entdeckte ich eines Tages
als ich hoch oben auf den Containern turnte
um meine Muskeln kräftig und meine Glieder gelenkig zu halten
direkt unter mir auf dem Deck den Kapitän
er stand an die Reling gelehnt und sah aufs Meer
in der Ferne kreuzte ein anderes Schiff unseren Kurs
da beschloss ich
auf seine Schultern zu springen und ihm die Mütze vom Kopf zu reißen
bloß so
um ihm einen Schrecken einzujagen
ich ließ mich von hoch oben fallen und landete auf seinen Schultern
im selben Augenblick hatte ich ihm auch schon die Kapitänsmütze vom Kopf gerissen aber
der Mann war so heftig erschrocken
dass er das Gleichgewicht verlor und
bei dem Versuch sich abzustützen
griff er ins Leere
die physikalischen Kräfte die auf seinen Körper wirkten
hoben ihn in die Höhe und
kippten ihn wie ein langes flaches Brett über die Reling hinaus ins Leere
er stürzte
ohne einen Schrei von sich zu geben
in den Ozean
als ich zur Reling hinsprang um ihn zu retten war er schon auf dem Weg nach unten
ich sah ihn im Wasser treiben und
immer weiter weg vom Schiff
wahrscheinlich rief er um Hilfe
so hoch oben wie ich mich befand konnte ich nichts hören
ich stand an der Reling und
hielt seine Mütze in der Hand
DER KAPITÄN: Was jetzt tun? mich verstecken? mich stellen?
mich selbst ins Wasser stürzen?
drei Tage lang hockte ich hinter einem Container und
wagte nicht mich zu rühren
verzweifelt wurde von den Seeleuten nach ihrem Kapitän gesucht
Rufe erschallten
sein Name wurde geschrien
niemand wollte glauben dass er über Bord gegangen sein konnte
am vierten Tag beschloss ich mit dem Versteckspiel aufzuhören und
mich zu zeigen
ich setzte die Kapitänsmütze auf und
stellte mich auf das Dach eines Containers
an einer Stelle wo ich sofort entdeckt werden musste
so kam es auch
die Mannschaft lief zusammen
alle zeigten auf mich
zwei von ihnen warfen sogar mit Kartoffeln und einer leeren Flasche Wodka nach mir
ich ließ mich nicht vertreiben
dann hielt ich wie ich es mir vorgenommen hatte eine Rede
in englisch
das war schließlich die Bordsprache
englisch hatte ich von meinem Großvater gelernt
der es wiederum von seinem Großvater hatte
der an der Goldküste noch unter der Besatzung der Engländer gelebt hatte
DER KAPITÄN: Ich erzählte
dass ich die Mütze gefunden hatte
am obersten Deck und
dass ich überall nach dem Kapitän gesucht hatte
ihn aber nirgendwo hatte finden können
was hätte die Mannschaft anderes tun sollen als mir zu glauben?
sie hatten nichts was das Gegenteil bewiesen hätte
ich sah wie sie die Köpfe zusammensteckten und diskutierten
einer schüttelte die Faust gegen mich aber
schließlich setzten sich jene durch die bereit waren mir zu glauben
ich rief: Ich bin jetzt Euer Kapitän
ich werde meine Aufgabe so gut erledigen wie ich nur kann
so gut wie Euer alter Kapitän
ich werde meine Pflicht erfüllen
wir werden den Kurs beibehalten und
die Ladung sicher an den Zielhafen bringen
wir werden den Zeitplan einhalten
wir werden unser Bestes geben
niemand wird sich über uns beklagen können
DER KAPITÄN: Als sie sich gefasst hatten
beschlossen sie abzustimmen
das Ergebnis fiel zu meinen Gunsten aus
fünfzehn zu sieben für mich
die sieben Gegenstimmen revoltierten nicht sie akzeptierten ihre Niederlage und
schlossen sich in ihrer Meinung jetzt der Mehrheit an
damit war ich als Kapitän bestätigt
ich zog in die Kapitänskajüte
die Kleider des alten Kapitäns mussten umgeändert und
auf meine Körpermaße angepasst werden
einer der philippinischen Seeleute hatte von seiner Mutter das Schneiderhandwerk gelernt
er übernahm die Aufgabe
DER KAPITÄN: Gleich am ersten Abend veranstaltete ich an Deck ein großes Barbecue
der Koch legte die besten Steaks aus dem Kühlraum auf den Grill
dem Ersten Offizier befahl ich Rum auszuschenken
ich ermunterte die Mannschaft zum Tanzen
einer von ihnen holte aus seiner Kajüte sein Soundsystem
aus den Boxen erklang HipHop aus Manila
wir hoben unser Glas und
tranken auf die Seele des verunglückten Kapitäns
STIMMEN DER SEELEUTE:
– Auf den alten Kapitän
– Auf den neuen Kapitän
– Auf unser schönes Schiff
– Ein schönes Schiff geht niemals unter
– Auf die Schifffahrt
– Auf die Zivilisation
DER KAPITÄN: Die Party dauerte die ganze Nacht
um fünf Uhr erschien die Sonne am Firmament
es war der schönste Sonnenaufgang meines Lebens
DER KAPITÄN: Die Mannschaft war
das erkannte ich gleich
eine gute Mannschaft
es sind großartige Seeleute
sie kommen von den Philippinen aus Indien aus Sri Lanka
Bordsprache ist englisch aber
fast alle sprechen auch noch andere Sprachen
STIMMEN DER SEELEUTE:
– Ich lerne abends in meiner Kajüte deutsch
– Ich auch
– Ich lerne chinesisch
– Ich verbessere mein Englisch
– Ich lerne Blockflöte
– Ich lerne nichts ich schaue nur fern
– Ich schaue nur aufs Meer
– Wozu soll sich ein Seemann bilden?
– Ich studiere Wirtschaftswissenschaften Fernstudium natürlich
– Was willst du einmal werden?
– Seemann
DER KAPITÄN: Ich stellte das Schiff auf Autopilot
unser Zielhafen war Hamburg
der Autopilot würde uns sicher dorthin bringen
das Schiff fuhr mit 22 Knoten
STIMMEN DER SEELEUTE:
– 21 Knoten
DER KAPITÄN: Die Maschine hatte 80000 PS
STIMMEN DER SEELEUTE:
– Annährend 80000
– Nicht ganz 80000
DER KAPITÄN: Die Maschinen fraßen 300 Tonnen Öl am Tag
STIMMEN DER SEELEUTE:
– Bestes Schweröl
– Bestes Schweröl das schmutziger ist als alles andere
– Das Dreckigste vom Dreckigen
DER KAPITÄN: Unser Schiff fuhr unter der blau-weiß-roten Flagge von Panama
damals fragte ich mich noch nicht warum eigentlich unter dieser Flagge
STIMMEN DER SEELEUTE:
– Wahrscheinlich weil sie so hübsche Farben hat
– Jedes siebte Frachtschiff auf der Welt fährt unter der Flagge Panamas
– Panama ist ein schönes Land
– Panama hat einen schönen Kanal
DER KAPITÄN: Panama erinnerte mich an meinen Vater
als ich ein Kind war hatte er mir ‚Oh wie schön ist Panama‘ vorgelesen
wenn ich an meinen Vater dachte wurde ich traurig
trotzdem wollte ich nicht nach Hause
Ende des Textausschnitts