Tyx
© Robert Woelfl
Textausschnitt
Auf dem Weg ermahnte mich Sophia mehrmals, dieses und jenes nicht zu sagen. Du weißt. Ja, weiß ich alles.
Sophia wollte, dass wir einen guten Eindruck machten. Sie hoffte, dass sich ihre Freundschaft mit Teresa festigen würde. Davon konnten wir, auch ich, so war Sophia überzeugt, nur profitieren.
Lass sie einfach reden, sagte sie, als wir im Auto saßen. Du musst sie einfach nur reden lassen.
Mach dir keine Sorgen, antwortete ich. Ich weiß, was ich machen muss. Ich weiß, was Quatsch-Quatsch ist.
Du weißt, dass Jonas mehrere Firmen hat, sagte Sophia.
Weiß ich. Mach dir keine Sorgen. Wir werden die beiden um den Finger wickeln. Wickel, wickel, rund herum. Einmal, zweimal. Egal, wie reich sie sind.
Sie sind sehr reich, sagte Sophia.
Glaubst du oder weißt du?
Ich glaube, sie sind richtig, richtig reich.
Wir waren bei Jonas und Teresa zum Abendessen eingeladen. Es war das erste Mal, und wir waren schon sehr neugierig. Wir stellten uns das Haus als dreistöckige Wahnsinns-Villa mit Säulen und Veranda undsoweiter vor. Großkotz-Schnick-Schnack-und-Geld-ohne-Ende-Welt. Den Garten malten wir uns als Park mit Zierbäumen und gestutzten Hecken aus. Schließlich lag das Haus im nobelsten Bezirk der Stadt. Wir rätselten, was es zum Essen geben würde. Wir nahmen an, ein mehrgängiges Menü. Fisch, Fleisch, Austern, Kaviar, Trüffel. Vielleicht hatten sie sogar einen eigenen Koch. Sophia wusste von Teresa, dass sie nicht selbst kochte. Also mussten sie Angestellte haben. Wir waren auch neugierig, mit welchen Designer-Möbeln das Haus eingerichtet war, und ob es im Keller einen Pool und einen eigenen Fitnessraum gab. Und nicht zuletzt waren wir neugierig auf den Tyx.
Beim Abendessen wurde nur wenig gesprochen, nur das Notwendigste, damit am Tisch nicht völliges Schweigen herrschte. Jonas sagte so gut wie gar nichts, und Teresa ließ bloß hin und wieder einen Nonsens-BlaBla-Satz über den Garten und die Bewässerung des Rasens fallen. Vielleicht hatten die beiden kurz vor unserer Ankunft gestritten und schwiegen einander deshalb an, vielleicht war es auch etwas anderes. Ich hielt mich daran, was ich Sophia versprochen hatte. Die Gastgeber reden lassen. Die Atmosphäre war mehr als das sprichwörtliche frostig. Erst mit Fortdauer des Abends wurden Jonas und Teresa etwas gesprächiger.
Die einzelnen Gänge wurden von einem Mann in einer schwarzen Hose und einem weißen Hemd aufgetragen. Jonas nannte ihn Juri, und Teresa bemerkte einmal, als Juri nicht im Raum war, dass er sich um den Garten kümmern würde. Juri stellte die Teller wortlos auf den Tisch und servierte sie wortlos wieder ab. Ob Juri die Gerichte auch zubereitet hatte, erfuhren wir nicht. Ich stellte auch keine Fragen in dieser Richtung. Das Essen war durchschnittlich und nicht sehr warm. Nach dem Dessert, einer Pavlova-Torte, verschwand Jonas für ein paar Minuten aus dem Zimmer und kam mit dem Tyx in der Hand wieder zurück. Er stellte ihn mitten auf den Tisch. Bis jetzt hatten weder Sophia noch ich einen lebenden Tyx gesehen. Es war das erste Mal für uns. Keiner unserer Freunde konnte sich einen Tyx leisten.
Der Tyx verharrte unbeweglich in seiner steifen Haltung. Nur ab und zu neigte er den Kopf zur Seite. Erst nach einer längeren Weile hob er ein Bein, sehr langsam und bedächtig, als müsste er erst überlegen, was er mit diesem Bein alles anstellen konnte. Schließlich stellte er das Bein wieder auf den Tisch und nahm wieder seine ursprüngliche Haltung ein. Er wirkte wie aus schwarzem Granit gemeißelt. Dann machte er plötzlich wie aus dem Nichts heraus einen Sprung und landete unmittelbar vor Sophias Teller. Sophia sprang auf, stieß ihren Stuhl um, und drückte sich mit dem Rücken an die Wand.
Jonas lachte auf. Er tut doch nichts. Er tut dir nichts, sagte er.
Sophia zitterte am ganzen Körper.
Du brauchst keine Angst zu haben, er tut dir nichts, sagte Jonas noch einmal, als würde er zu einem Kind sprechen.
Stimmt, sagte Teresa. Er tut dir nichts. Kein Grund, sich zu fürchten.
Der Tyx hüpfte zurück an die Stelle, wo er davor gestanden war. Ich wartete darauf, dass er etwas umstieß. Ein Glas, die Flasche Wein, den Salzstreuer. Aber das passierte nicht. Auch als er sich schnell einmal um die eigene Achse drehte, berührte er dabei keinen Gegenstand, keine Gabel oder ein Messer. Er schien genau darauf zu achten, die Ordnung auf dem Tisch nicht durcheinander zu bringen.
Sophia stellte ihren Stuhl auf und setzte sich wieder.
Er hat mich ganz schön erschreckt, sagte sie.
Teresa lächelte. Aber es ist nichts passiert. Oder ist etwas passiert?
Alles in Ordnung, beeilte sich Sophia zu sagen und nahm ihr Weinglas in die Hand.
Der Tyx hüpfte jetzt vor meinen Teller und fixierte mich mit seinen kleinen dunklen Stecknadelkopfaugen. Er konnte seinen Kopf in einem Neunzig-Grad-Winkel auf die Seite kippen. Ich sah ihm in die Augen. Er hielt meinem Blick stand und schien darauf zu warten, dass ich als erster den Blick abwendete.
Er war größer als ich gedacht hatte. Sein Körper hatte etwa die Länge meines Unterarms. Von den Bildern, die ich kannte, hatte ich mir vorgestellt, dass sie nicht größer als eine Handfläche wurden. Zudem vermittelte er den Eindruck, sehr kräftig zu sein. Seine ruckartigen Bewegungen gaben ihm etwas Maschinenhaftes.
Nachdem er mich eine Weile mit geneigtem Kopf von unten angesehen hatte, schien ihm das langweilig geworden zu sein und er hüpfte zum Teller von Teresa. Auch dieses Mal ohne ein Glas umzustoßen. Teresa streckte ihren Arm aus und strich ihm mit der Kuppe ihres Zeigefingers in einer langsamen Bewegung über den Hals und Rücken.
Woher kommt er eigentlich? fragte Sophia, die sich von ihrem Schrecken wieder erholt hatte, aber jetzt mit größerem Abstand zum Tisch saß.
Du meinst, woher diese Art stammt? fragte Teresa.
Sie kommen von einer Insel nördlich von Australien, sagte Jonas.
Östlich von Australien, verbesserte Teresa.
Stimmt, sagte Jonas, von einer tropischen Insel östlich von Australien.
Eigentlich ist es eine ganze Inselgruppe, verbesserte ihn Teresa noch einmal.
Wir waren aber nicht dort, sagte Jonas.
Noch nicht, fiel ihm Teresa ins Wort, wir waren noch nicht dort. Vielleicht fahren wir einmal hin.
Wir haben ihn aus Paris, sagte Jonas.
In Paris gibt es das mit Abstand beste Institut, sagte Teresa.
Wenn ihr euch einmal einen zulegen wollt, dann fragt mich nach der Adresse, ergänzte Jonas. Es ist in der Nähe der U-Bahn-Station Porte de la Villette.
Teresa nahm den Tyx mit beiden Händen und setze ihn sich auf den Oberschenkel. Sie trug eine Hose.
Man muss nur Acht geben auf die Krallen, sagte sie. Er hat mir schon ein Paar Strümpfe und einen Pullover zerrissen. Aber dafür, dass er Krallen hat, kann er ja nichts. Er passt sehr darauf auf, dass er niemanden verletzt.
Niemand tut ihm etwas, also tut auch er niemandem etwas, sagte Jonas.
Teresa drückte ihm einen Kuss auf den Schnabel.
Jonas schaute ihr zu und lächelte dabei, so mild und freundlich, als würde er ein Kind betrachten, das ganz in sein Spiel versunken ist.
Ich hätte die beiden gern gefragt, was er gekostet hatte, aber das zu fragen, wäre kleinlich gewesen. Ich wollte ihnen gegenüber lieber ausdrücken, wie beeindruckt ich von ihrem Tyx war. Ich sagte: Er ist phantastisch.
Stimmt, sagte Jonas, er ist wirklich phantastisch.
Er gehört eigentlich mir, sagte Teresa.
Ja, sagte Jonas und nickte, er gehört dir. Es war ein Geschenk.
Ein Geburtstagsgeschenk, wiederholte Teresa. Aber, fuhr sie fort, es ist dumm, von einem Lebewesen zu sagen, dass es jemandem gehört.
Richtig. Kein Lebewesen gehört einem anderen Lebewesen, pflichtete ihr Jonas bei.
Er wohnt bei uns, er lebt bei uns, sagte Teresa, wir sind dafür verantwortlich, dass es ihm gut geht.
Ich glaube, dass er sich nicht beklagen kann, sagte Jonas. Oder? Kannst du dich beklagen? Und damit fuhr auch Jonas ihm mit dem Finger über den Hals und den Rücken, was der Tyx offenbar mochte.
Was isst er eigentlich? fragte Sophia.
Du meinst, was frisst er? sagte Teresa.
Ja. Was frisst er?
Was frisst er alles? Teresa wandte sich zu Jonas.
Jonas hob fragend die Schultern. Wir haben noch nicht herausgefunden, was er alles frisst. Bis jetzt hat er alles gefressen, was wir ihm vorgesetzt haben. Man müsste besser fragen, was frisst er nicht?
Teresa lachte kurz auf. Ja, das stimmt. Was frisst er eigentlich nicht?
Was frisst er am liebsten? fragte Sophia.
Eier, antwortete Jonas.
Hühnereier?
Rohe Hühnereier, sagte Teresa. Und dann zu Jonas gewandt: Hol bitte ein Ei aus dem Kühlschrank. Vielleicht möchte er ein Ei.
Glaubst du, dass er jetzt eines möchte? fragte Jonas.
Er sieht, dass wir gegessen haben. Wenn wir ihm nichts geben, wird er sich fragen, warum er nichts bekommt, sagte Teresa.
Jonas stand auf, um das Ei zu holen.
Die ganze Zeit, während Jonas draußen war, sagte niemand etwas. Teresa strich dem Tyx über den Rücken, Sophia sah ihr dabei zu, und ich schenkte mir noch ein Glas Wein nach.
Als Sophia mir zum ersten Mal von Jonas und Teresa erzählte, wobei sie zu dem Zeitpunkt Jonas noch gar nicht persönlich kennengelernt hatte, sagte sie: Die sind richtig, richtig reich. Sie sprach es so aus, als würde sie dabei zur selben Zeit Fieber und Schüttelfrost empfinden. Dabei wusste Sophia gar nicht, wie reich sie in Wirklichkeit waren. Sie vermutete einfach nur, dass sie sehr reich waren. Bis zu dem Abendessen hatten wir keine Ahnung, ob sie zu den wirklich Reichen zählten oder ob sie nur zu den einigermaßen Reichen gehörten. Aber auch als wir das Haus sahen, wussten wir nicht wirklich mehr. Man konnte sich nur folgendes denken: Wer ein solches Haus besaß, mit einem solchen Garten, noch dazu in einer solchen Lage, besaß in der Regel auch noch ein zweites Haus, am Berg oder irgendwo am Meer, und besaß ein Boot oder vielmehr eine Yacht, an der Adria, in der Ägäis, vielleicht sogar an der Riviera, und besaß auch mehrere Autos, mehr als nur einen Porsche und einen großen Audi. Aber vielleicht würden wir das alles noch bis ins kleinste Detail erfahren, vielleicht würden wir die ganze Wahrheit erfahren, wenn sie uns das nächste Mal zum Essen einluden. Wenn es uns gelang, uns als interessant darzustellen, und als geheimnisvoll, als jemand, mit man unbedingt befreundet sein wollte.
Ende des Textausschnitts
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