Überfluss Wüste
Corinna Pohlmann in ÜBERFLUSS WÜSTE am Theater Bamberg, Regie Daniel Kunze, Spielzeit 2018/19 (Foto Martin Kaufhold)
© S. Fischer Verlag, Aufführungsrechte S. Fischer Verlag Theater & Medien
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Textausschnitt
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ZOE Im Nordwesten Nevadas gibt es eine riesige, tausende Quadratkilometer große Wüste. Mitten in dieser Wüste gibt es eine Stelle, die man Die Quellen der Unsterblichkeit nennt. Es ist nicht einfach, diese Stelle zu finden. Sie ist auf keiner Karte eingezeichnet und kein Navigationssystem kennt die Koordinaten. Es ist ein Riss in der Erde. Er ist nicht sehr lang und nicht sehr breit, aber sehr tief. Steht man an seinem Rand und blickt hinunter, erkennt man kein Ende, nur ein schwarzes Nichts. In der ganzen Gegend rund um diese Erdspalte wachsen keine Pflanzen, keine Kreosotbüsche und keine anderen Wüstensträucher. Hier leben auch keine Tiere. Nicht einmal Eidechsen oder Schlangen. Manche halten diese Stelle für den Eingang zur Unterwelt. Die meisten kommen hierher, weil es heißt, dass man, wenn man diesen Ort gefunden hat, sich etwas wünschen darf. Natürlich wünschen sich alle einen genialen Einfall, eine geniale Idee für ein neues Programm. Larry Page und Sergey Brin hatten hier die Idee zu ihrer neuen Art von Suchmaschine, Kevin Systrom kam hier auf den Gedanken, dass sich Menschen gern Bilder ansehen und diese Bilder auch anderen zeigen wollen, Jack Dorsey hat hier Twitter erfunden. Natürlich waren an diesem Ort auch schon Linus Torvalds und Bill Gates und Steve Jobs und Mark Zuckerberg und Michael Dell und Steve Wozniak und Larry Ellison und Eric Schmidt und Paul Allen und Jeff Bezos und Jan Koum und Travis Kalanick und Marissa Mayer und Sheryl Sandberg. Ich war auch schon oft hier. Wenn ich ein paar Tage durchgearbeitet und nicht geschlafen habe, und wenn es in San Francisco kalt und nebelig ist, und wenn ich nicht mehr weiß, wie es in meinem Leben weitergehen soll, setze ich mich ins Auto und fahre hierher. Man fährt auf der Interstate 80 bis nach Reno und von dort noch eine Stunde in östlicher Richtung weiter, bis man einen kleinen Ort erreicht, wo es keine Tankstelle gibt, aber eine Kirche aus rotem Holz und einen großen Wasserturm, auf dessen Dach ein Adler aus schwarzem Metall angebracht ist. An der einzigen Kreuzung in dieser Stadt biegt man nach links ab und fährt zweihundert Meilen in nördlicher Richtung, bis man vor einem verfallenen Holzhaus steht, das noch aus der Zeit stammt, als hier die Eisenbahnschienen verlegt wurden. Hinter diesem Haus beginnt eine steinige Piste. Dieser Piste muss man hundertzwanzig Meilen bis zu einem großen Steinhaufen auf der rechten Seite folgen. Dort lässt man das Auto stehen und geht das letzte Stück zu Fuß. Die Quellen der Unsterblichkeit sind ein besonderer Ort. Heute bin ich hierher gekommen, weil heute ein besonderer Tag ist. Heute wird die Welt untergehen. Und das hier ist der einzige Ort, wo ich sein will, wenn es passiert.
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SEBASTIAN Es könnte diese Stelle hier sein. Und es könnte genau so gut dort drüben sein.
FINN Es ist hier.
SEBASTIAN Dort drüben sieht es ganz gleich aus.
FINN Es ist diese Stelle.
SEBASTIAN Warum steht hier kein Schild? Hier müsste ein Schild stehen, das eindeutig zeigt, wo es ist. Ein einfaches Schild würde genügen. Ein Schild mit dem Namen. Oder mit einem roten Pfeil.
FINN Hierher passt kein Schild.
SEBASTIAN Ich meine nicht eine große Werbetafel. Ich meine ein Hinweisschild.
FINN Ein Schild würde alles zerstören.
SEBASTIAN Ein großes Schild in einer grellen Farbe, aber nicht ein Schild in weiß oder grau oder schwarz.
FINN Ich bin froh, dass hier kein Schild steht.
SEBASTIAN Wenn es hier kein Schild gibt, weiß niemand, der hier zufällig vorbei kommt, was das hier überhaupt ist.
FINN Hier kommt niemand zufällig vorbei. Das ist kein Ort, an dem jemand zufällig auf dem Weg von irgendwo nach irgendwo anders vorbeikommt und hier eine Pause macht und sich bei dieser Gelegenheit den Ort ansieht.
SEBASTIAN Vielleicht ist es hier. Aber vielleicht ist es auch dort drüben.
FINN Hier an dieser Stelle muss man stehen.
SEBASTIAN Im Netz sieht es ganz anders aus.
FINN Im Netz sieht immer alles anders aus.
SEBASTIAN Im Netz sieht es magisch aus.
FINN Es kommt darauf an, zu welcher Tageszeit die Fotos aufgenommen wurden.
SEBASTIAN Im Netz sieht es so aus, als würde alles schweben. Es sieht alles so schwerelos aus. Und irgendwie harmonisch. Im Netz sieht es harmonischer aus.
FINN Wahrscheinlich wurden die Fotos bei Sonnenuntergang aufgenommen.
SEBASTIAN Ich habe es mir anders vorgestellt.
FINN Wenn wir bis zum Sonnenuntergang warten, wird es so aussehen wie auf den Fotos.
SEBASTIAN Bis zum Sonnenuntergang ist es viel zu lang. Es gibt hier keinen Schatten. Man kann nicht sechs oder sieben Stunden lang in der Sonne stehen. Es ist unglaublich heiß.
FINN Natürlich ist es in der Wüste heiß.
SEBASTIAN Ich hatte noch jedes Mal im Urlaub ein Problem mit der Hitze.
FINN Das ist keine Urlaubsreise.
SEBASTIAN Es ist wie eine Urlaubsreise.
FINN Wir sind nicht hier, um Urlaub zu machen.
SEBASTIAN Ich wäre gern nach Los Angeles gefahren. Ich habe dir vorgeschlagen, nach Los Angeles zu fliegen.
FINN Ich wollte hierher, nicht nach Los Angeles.
SEBASTIAN Wer in Kauf nimmt, elfeinhalb Stunden im Flugzeug zu sitzen, kann doch gleich nach Los Angeles fahren.
FINN Ich wollte nicht nach Los Angeles.
SEBASTIAN Du warst noch nie dort auf der Messe.
FINN Ich kenne die Messe in Köln.
SEBASTIAN Du kannst Köln nicht mit Los Angeles vergleichen.
FINN Ich wollte nicht zu einer Computerspielmesse, sondern an einen ganz besonderen Ort.
SEBASTIAN Die Messe in Los Angeles ist auch ein besonderer Ort.
FINN Schon seitdem ich zum ersten Mal darüber gelesen habe, will ich hierher. Es ist eine weite Reise und es ist eine teure Reise und deshalb möchte ich das Maximum aus dieser Reise herausholen.
SEBASTIAN Was müssen wir jetzt tun?
FINN Man braucht gar nichts zu tun. Einfach nur hier zu stehen und zu atmen und zu warten.
SEBASTIAN Ich habe ein Problem mit dem Atmen. Das habe ich dir erzählt.
FINN Das Wichtigste ist, hier zu stehen. Es genügt, wenn man hier an dieser Stelle die Augen schließt und wartet.
SEBASTIAN Müssen wir nicht irgend etwas sagen? Muss man nicht irgendeinen Satz sprechen? An solchen Orten spricht man gewöhnlich eine Beschwörungsformel.
FINN Man spricht hier keine Beschwörungsformel.
SEBASTIAN Man muss sagen, dass man hier ist.
FINN Das muss man nicht.
SEBASTIAN Man muss mit dem Ort Kontakt aufnehmen.
FINN Was meinst du damit?
SEBASTIAN Man muss mit dem Ort kommunizieren.
FINN Das muss man nicht. Man muss einfach nur hier stehen und innerlich vorbereitet sein.
SEBASTIAN Ich weiß nicht, ob ich innerlich vorbereitet bin. Ich bin elfeinhalb Stunden im Flugzeug gesessen.
FINN Da hattest du Zeit dich vorzubereiten.
SEBASTIAN Ich bin jedes Mal nervös, wenn ich fliegen muss. Ich habe nur darauf gewartet, dass der Flug so schnell wie möglich vorüber geht.
FINN Du hast die ganze Zeit gespielt.
SEBASTIAN Um nicht nervös zu sein.
FINN Deshalb bist du jetzt innerlich nicht vorbereitet.
SEBASTIAN Das Spielen entspannt mich.
FINN Dann sei jetzt entspannt und warte einfach, was passiert.
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SEBASTIAN Finn und ich kommen aus Stuttgart. Wir arbeiten beide in der Forschungsabteilung eines großen Autoherstellers. Unsere Aufgabe ist es, nach dem Auto der Zukunft zu suchen. Wir müssen international wettbewerbsfähig bleiben und dürfen nicht hinter die USA oder China zurückfallen. Das können wir nur erreichen, wenn es uns gelingt, das Auto der Zukunft zu erfinden.
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FINN Wenn auch das Auto von morgen aus Deutschland kommen soll, braucht die deutsche Autoindustrie eine geniale Idee. Alle in Stuttgart und Wolfsburg und München und Leipzig und Ingolstadt suchen nach dieser Idee. Niemand weiß, wie das Auto in zehn oder zwölf Jahren aussehen wird, aber wenn wir nicht bald eine Vision davon entwickeln, wird in zehn Jahren in Deutschland kein Auto mehr gebaut werden. Im Augenblick bauen wir noch die besten Autos der Welt. Aber wie lange noch? Das Auto ist eine der größten Erfindungen der Menschheit. Vielleicht ist es die allergrößte. Und die Geschichte des Autos ist noch nicht abgeschlossen. Irgendwann wird es Autos geben, die sich selbstständig weiterentwickeln und die andere Autos herstellen, die sich wiederum selbstständig weiterentwickeln. Und immer so fort, bis es einmal Autos geben wird, die leistungsfähiger und klüger sind als jede Maschine, die bis dahin gebaut worden ist. Diese Autos werden uns ersetzen. Sie werden die gesamte menschliche Zivilisation ersetzen. Irgendwann wird es auf der Erde keine Menschen mehr geben, aber dafür perfekte Autos. Diese Autos sind unser Vermächtnis.