Wenn wir oben sind
© Robert Woelfl
Textausschnitt
Das Schaf hatte spiralig gedrehte Hörner, die rechts und links waagrecht vom Kopf wegstanden, und die aussahen, als könnten sie ganz leicht den Bauch eines Menschen durchbohren. Wie nichts.
Als der alte Mann das Schaf packte, warf es den Kopf hin und her, um seinem Griff zu entkommen. Es stampfte mit den Klauen auf dem Boden auf, aber der Alte war geschickt und hatte dem Tier im Nu eine Schnur um den Hals gebunden. Das andere Ende der Schnur reichte er Isabel.
Isabel sah ihn fragend an. Sie wusste nicht, ob sie die Schnur um ihre Hand wickeln sollte, oder ob es ausreichte, sie einfach mit den Fingern zu halten. Ganz abgesehen davon, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Schaf an einer Leine führen sollte.
Das ist es, sagte der Alte. So als hätte Isabel noch immer nicht verstanden, was jetzt zu tun war.
Der Alte trug in seinem Bart winzige Kluppen aus Holz. Zumindest sahen die Holzdinger wie Kluppen aus. Kluppen? Wirklich? Genau war es nicht zu erkennen. Außerdem wollte Isabel nicht die ganze Zeit auf den Bart des Mannes starren.
Ihr müsst es bis ganz hinauf bringen. Ich habe euch den Weg erklärt, sagte der Alte. Ihr werdet ihn auch ganz leicht finden. Haltet euch an die Markierungen.
Die grün-blauen Zeichen? fragte Isabel.
Ja, ein grüner und ein blauer Streifen.
An den Bäumen?
Der Alte nickte. Ja.
Isabel fragte sich, warum der Alte eigentlich ihr und nicht Moritz die Schnur in die Hand gedrückt hatte.
Und wenn es nicht will? fragte sie.
Es wird von ganz allein laufen. Es wird vor euch her laufen. Aber lasst trotzdem auf keinen Fall die Schnur los.
Das Schaf hatte eine schwarze Nase und schwarze Ohren, während es an allen anderen Körperstellen weiß war.
Isabel sah auf die Schnur, und dann auf das Schaf, das in der Dunkelheit des Stalls stand, zu Boden blickte und keine Anzeichen machte, seinen Stall verlassen zu wollen.
Wird es ganz bestimmt von allein laufen? fragte Isabel noch einmal.
Der Alte nickte energisch. Er hatte schon alles doppelt und dreifach erklärt.
Wenn wir oben sind, was sollen wir dann tun? fragte Moritz, der die ganze Zeit hinter Isabel gestanden war und die beeindruckenden Hörner des Tieres betrachtet hatte. Es war ein weibliches Tier. Bei dieser Rasse hatten auch die weiblichen Tiere solche Hörner.
Auch das hatte ihnen der Alte schon erklärt, aber er wiederholte es noch einmal. Ihr werdet oben eine Frau antreffen. Sie hütet die Herde. Ihr müsst ihr es geben.
Wird die Frau auch wirklich da sein? fragte Moritz.
Warum sollte sie denn nicht da sein? Ja, sie ist die ganze Zeit da oben. Sie ist immer da.
Und bei ihr tauschen wir es ein? fragte Moritz.
Der Alte sah Moritz an, verärgert über die Frage, die er schon mehrfach beantwortet hatte. So wie ich es euch erklärt habe, sagte er. Damit drehte er sich um und hinkte, auf seinen Stock gestützt, aus dem Stall hinaus.
Und die Kräuter? rief Isabel ihm nach.
Was für Kräuter?
Bekommen wir keine Kräuter?
Der Alte schüttelte den Kopf.
Isabel war sich sicher gewesen, dass sie von dem alten Mann Kräuter bekommen würden, dass sie sich die ganze Zeit schon gewundert hatte, warum er noch nicht angefangen hatte, davon zu reden. Kräuter oder Pilze oder vielleicht auch Flechten. Wobei ihr im selben Augenblick einfiel, dass sie gar nicht sagen hätte können, was Flechten eigentlich genau waren.
Isabel war fest davon überzeugt gewesen, dass sie eine Speise mit speziellen Kräutern vorgesetzt bekommen würden oder ein Gericht aus verschiedenen Pilzen zubereitet. Zwar war nirgendwo etwas von Kräutern oder Pilzen gestanden, aber für Isabel gehörten ein alter Mann auf einem Berg und Kräuter und Pilze einfach zusammen. Allein das Wort Pilze hatte für sie schon einen magischen Klang.
Auch Moritz erschien das mit den Pilzen und den Kräutern einleuchtend, deshalb fragte er den Alten: Sollen wir auf dem Weg irgendwelche Kräuter oder Pilze sammeln?
Der Alte blieb stehen und schüttelte den Kopf. Dann sagte er eindringlich: Esst nichts, was ihr nicht kennt.
Jetzt konnte sich Isabel nicht mehr zurückhalten, sie rief laut: Also keine Kräuter und keine Pilze sammeln, sondern nur das Schaf hinaufbringen?
Darauf antwortete der Mann nichts mehr. Er deutete bloß mit seinem Stock in Richtung des Gipfels. Dort hinauf mussten sie. Er hatte ihnen alles ganz genau erklärt.
Als sie am Morgen gegen fünf angekommen waren, hatte der Alte bereits vor der Tür seines Hauses auf sie gewartet. Der Bauernhof, der nicht mehr bewirtschaftet wurde, lag auf tausendzweihundert Metern. Das letzte Stück hatten sie zu Fuß zurücklegen müssen, weil die Forststraße unterhalb der Kuppe endete. Der Alte hatte sie in das Haus gebeten und ihnen einen Tee angeboten. Gewöhnlichen schwarzen Tee. Dazu Zirbenschnaps, den sie, wenn sie wollten, in den Tee gießen konnten. Das Erdgeschoß des Hauses war gemauert, mit Steinen und nicht mit Ziegeln, wie Moritz Isabel gegenüber anmerkte, während der erste Stock mit Holzbalken gezimmert war.
In der großen Stube im Erdgeschoß gab es an der Wand einen eisernen Herd. Als der alte Mann dort das Wasser aufgestellt und den Tee aufgegossen hatte, hatte Isabel Zeit gehabt, ihn genauer zu betrachten. Er war mindestens siebzig. Stämmig und offenbar noch immer sehr kräftig. Das Wort sehnig traf auf ihn zu. Er trug eine knielange graue Hose aus Filz. Seine Waden waren nackt und sahen mit ihren stark hervortretenden Adern wie knorrige Äste aus. Auch an den Unterarmen des Mannes traten die Adern überdeutlich hervor. Vielleicht das Ergebnis von lebenslanger schwerer Arbeit. Nahm Isabel an. Sie hätte den Mann wahrscheinlich alles fragen können, auch nach der Bedeutung der Kluppen in seinem Bart, der Alte machte einem freundlichen und offenen Eindruck. Aber man musste andererseits auch nicht alles wissen. Nicht um jeden Preis alles wissen zu wollen, war eine von Isabels festen Überzeugungen.
Die Stube war schmutzig gewesen. Jeder Gegenstand darin ebenso. Die Tischfläche mit den tiefen Kerben, der gelbe Lampenschirm, die Tassen aus Email, die der Mann für den Tee auf den Tisch gestellt hatte, die Teller, die Löffel, die Schale mit den Zuckerstücken, alles hatte Flecken und Ränder gehabt. Auf der Innenseite ihrer Teetasse hatte Isabel eine dünne braune Linie entdeckt. Nicht nur war die Tasse unansehnlich gewesen, der Henkel war auch mit irgendetwas Klebrigem verkrustet gewesen. Es war Isabel nicht leicht gefallen, aus dieser Tasse zu trinken.
Anfangs hatte sich das Gespräch um Allgemeines gedreht, um die Dolomiten, den Wintersport, die Lifte, die Lawinen im Winter, undsoweiter, bis der Alte sie nach dem Geld gefragt hatte. Moritz hatte daraufhin aus dem Rucksack das Kouvert geholt und es auf den Tisch gelegt. Der Alte hatte die Scheine herausgenommen und sie einzeln auf den Tisch geblättert. Hatte sie vor ihnen nachgezählt. Hunderterschein für Hunderterschein. Danach die Scheine zurück ins Kouvert gesteckt und das Kouvert unter seinen dunkelgrünen Pullover geschoben.
Nachdem das mit dem Geld geregelt gewesen war, hatte der Alte angefangen, ihnen zu erklären, was sie zu tun hatten.
Isabel zog das Schaf an der Schnur aus dem Stall. Von allein laufen und ihnen voran gehen, konnte keine Rede sein. Moritz kontrollierte noch einmal die Wasserflaschen und die Aludosen mit den Broten. In ihrem städtischen Perfektionismus waren sie ausgerüstet, als brächen sie zu einer Hochgebirgstour auf. Der Alte ließ sich nicht mehr blicken. Er blieb im Inneren des Hauses. Aber es war ja alles geklärt. Sie wussten, was zu tun war.
Isabel wickelte die Schnur fest um ihre rechte Hand und ging ein paar Schritte, bis die Schnur gespannt war. Das Schaf schien jedoch noch immer nicht zu verstehen und nicht zu wollen. Es hielt den Kopf mit den gedrehten Hörner nach unten gesenkt. Was so aussah, als würde es nachdenken. Isabel verspürte den Impuls, nach dem Alten zu rufen und sich zu beschweren, dass das Schaf nicht so funktionierte, wie es sollte. Aber dann erinnerte sie sich daran, dass sie sich fest vorgenommen hatte, genau das zu tun, was von ihr verlangte wurde, was immer es war. Atmen, atmen, und gehorchen. Und nicht denken. Bis jetzt hatte das ganze Denken nichts gebracht. So wenig wie die Hightech-Medizin und die Hormonbehandlungen. So wenig wie die Zen-Meditation und die Rückwärtsspaziergänge. So wenig wie das Abzählen von Fichtennadeln und die Reisen nach Medugorje. Wenn dieser Alte von ihr verlangt hätte, einen Liter einer unbekannten Flüssigkeit zu trinken, mit einen Zug, ohne abzusetzen, hätte sie das getan. Und sie hätte Moritz aufgefordert, dasselbe zu tun.
Sie wollte den Alten rufen, aber sie beherrschte sich. Moritz erkannte die immer größer werdende Verzweiflung. Er nahm Isabels Hand, wickelte die Schnur ab, nahm selbst den dünnen Spagat und zog daran. Zufall oder nicht, vielleicht hatte das Schaf in diesem Augenblick selbst die Absicht gefasst, loszutraben, auf jeden Fall setzte es sich in Bewegung, weiterhin mit zu Boden gesenktem Kopf, und trottete die Wiese bergan. Genau auf jenen Punkt am Waldrand zu, den ihnen der Alte gezeigt hatte, und von dem er gesagt hatte, dass dort der Weg begann. Moritz beeilte sich, dem Tier zu folgen. Und auch Isabel beeilte sich, wie mit einem Mal aus ihrer Schockstarre erlöst.
Wir wechseln uns ab, sagte Moritz.
Die Sonne blies frührotes Licht auf die Berge, die wie faltige große Echsen in sich ruhten. Hellgrüne Wiesen wuchsen bis fast zu den Gipfeln hinauf. In den Furchen stürzten silberfarbene Bäche ins Tal. Alles schien noch zu schlafen und sich mit dem Erwachen Zeit zu lassen.
Das Schaf trabte voran, trittsicher und schnell. Moritz hielt die Schnur so locker wie möglich, um es nicht in seinem Bewegungsdrang zu bremsen und von seiner Zielgerichtetheit abzubringen. Das genaue Ziel war ja nur ihm, dem Schaf, bekannt. Für Moritz und Isabel lag es bloß irgendwo da oben, knapp unter dem Gipfel, irgendwo hinter einer Kuppe, hinter einer der einhundert Kuppen, auf einem Plateau, in einer Senke. Sie wussten es nicht.
Wie weit war es? Wie lange würden sie bis dahin unterwegs sein? Auf diese Frage hatte der Alte nur sehr vage geantwortet. Immer nur mit einem: Ihr werdet es schon sehen. Und: Ihr könnt es nicht verfehlen.
Sie hatten es irgendwann aufgegeben, ihm eine eindeutige Aussage entlocken zu wollen. Isabels Meinung dazu war, dass man den anderen Menschen einfach vertrauen müsse. In diesem Fall mussten sie eben diesem alten Mann vertrauen. Was hätte es ihnen genützt, ihm um jeden Preis eine konkrete Aussage abzupressen? Er hätte sie ja ganz leicht belügen können. Er hätte ihnen die größtmögliche Lüge auftischen können und sie hätten sie verzehren müssen. Was wäre ihnen auch anderes übrig geblieben? Wenn der Satz „Ihr könnt es nicht verfehlen“ sie ans Ziel führen sollte, dann würde er das auch tun. Das war Isabels Ansicht. Also konnten sie genauso gut ihr Misstrauen begraben. Misstrauen half ihnen in diesem Fall genau nichts. Sie hatten viel Geld für diese Reise ausgegeben. Jetzt dem Alten zu misstrauen, hätte geheißen, das ganze Unternehmen in Frage zu stellen. Und damit auch sich selbst in Frage zu stellen. Was sie in ihrer Lage am wenigsten brauchen konnten, war Zweifel. Er verschaffte ihnen keinen Vorteil. Und brachte sie ihrem Ziel kein bisschen näher.
Sie folgten dem kleinen gehörnten Wesen den Berg hinauf. Diesem Wesen, das eigentlich gar nicht so klein war, und auf alle Fälle sehr kräftig und sehr geschickt.
Ende des Textausschnitts
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