Wir verkaufen immer
Marianne Kittel, Robin Bohn und Georg Zeies in „Wir verkaufen immer“, Mainfranken Theater Würzburg 2013
Regie: Stephan Suschke
(Foto: Nicolas Manger)
© S. Fischer Verlag, Aufführungsrechte S. Fischer Verlag Theater & Medien
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Textausschnitt
1
MARTIN Mein Vater und meine Mutter und meine Schwester hatten ihr Geld auf einem Sparbuch. Ich habe ihnen erklärt, dass es ihnen dort zu wenig Zinsen bringt. Wegen der Inflation wird ihr Geld mit der Zeit weniger. Ich habe ihnen gesagt, dass sie, wenn sie ihr Geld auf einem Sparbuch liegen lassen, einen Kaufkraftverlust erleiden. Ich habe meinem Vater und meiner Mutter und meiner Schwester geraten, ihr Geld in Aktien anzulegen.
JULIA Du hast jemandem einen Rat erteilt. Das ist dein Beruf.
RICARDO Deine Eltern haben dich um einen Rat gefragt und du hast ihnen einen Rat gegeben. Genau das ist dein Beruf.
JULIA Du hast zuerst eine Finanzanalyse gemacht und basierend auf dieser Analyse einen Rat erteilt.
MARTIN Ich habe ihnen geraten, das Geld für ihre Altersvorsorge in Aktien anzulegen. Aber nicht in irgendwelchen, sondern in sicheren Aktien. Ich habe ihnen von den Aktien erzählt, die genauso sicher wie ein Sparbuch sind.
JULIA Zu diesen Aktien habe ich meinen Kunden auch geraten.
RICARDO Jeder hat seinen Kunden dazu geraten.
MARTIN Ich habe ihnen zu Aktien geraten, die zwar Aktien waren, sich aber nicht wie Aktien verhalten haben. Ich hätte meinem Vater und meiner Mutter und meiner Schwester nie zu etwas Riskantem geraten. Meine Eltern und meine Schwester wollen kein Risiko.
RICARDO Das musst du respektieren.
MARTIN Das habe ich respektiert.
JULIA Deine Eltern haben eine geringe Risikobereitschaft.
MARTIN Ich habe die geringe Risikobereitschaft meiner Eltern respektiert.
JULIA Dann hast du richtig gehandelt.
MARTIN Ich habe ihnen alles über die Aktien erzählt. Und ich habe ihnen den Prospekt gezeigt.
RICARDO Den Prospekt mit den Fotos?
MARTIN Ich habe ihnen die Bilder von den Bürogebäuden und den Fachmarktzentren gezeigt.
JULIA Ich erinnere mich an den Prospekt. Ich erinnere mich an die Fotos von den Büroobjekten in Rumänien und Polen.
RICARDO Und es gab auch Fotos von den Objekten in Budapest und in Prag.
MARTIN Ich habe ihnen vorgelesen, dass die Büroobjekte einen Vermietungsgrad von über neunzig Prozent haben.
JULIA Ich erinnere mich ganz genau an den Prospekt. Ein gut gemachter Prospekt.
MARTIN Ich habe meinen Eltern aber nicht gesagt, dass es Aktien sind. Ich habe das Wort Aktien nicht ausgesprochen. Meinen Vater und meine Mutter macht das Wort Aktien unruhig. Wenn im Fernsehen über irgendwelche Aktien berichtet wird, stehen sie augenblicklich auf und verlassen den Raum.
RICARDO Was hast du dann dazu gesagt?
MARTIN Das Wort Aktien regt sie auf. Ich habe gesagt, dass es Wertpapiere sind.
JULIA Das ist ebenso richtig.
MARTIN Ich habe gesagt, dass es wertvolle Wertpapiere sind.
RICARDO Du hast deine Eltern nicht belogen.
JULIA Du hast für deine Eltern nach einem guten Produkt gesucht und du hast sie nicht belogen.
MARTIN Wenn ich ihnen gesagt hätte, dass es Aktien sind, dann hätten sie sie nicht gekauft und hätten nicht die Chance gehabt, viel Geld damit zu verdienen. Sie reagieren nicht rational, wenn sie das Wort Aktien hören.
JULIA Das kenne ich.
MARTIN Sie reagieren einfach nicht rational.
JULIA Solche Kunden habe ich auch. Kunden, die nicht rational reagieren in Momenten, in denen man rational reagieren muss.
MARTIN Wir haben die Entscheidung an einem Sonntag getroffen, als ich bei ihnen zum Mittagessen war. Meine Mutter hatte einen Braten zubereitet und nachdem wir gegessen hatten, habe ich den Vorschlag gemacht, das Geld in diesen Wertpapieren anzulegen. Zuerst waren sie skeptisch. Weil sie immer skeptisch sind. Weil sie ängstlich sind. Weil sie unglaublich ängstlich sind. Aber es ist mir gelungen, sie zu überzeugen.
RICARDO Du hast jemanden von etwas überzeugt. Das ist dein Beruf.
JULIA Du hast Argumente vorgebracht. Du hast Überzeugungsarbeit geleistet.
RICARDO Überzeugungsarbeit zu leisten, ist dein Beruf.
JULIA Du hast Überzeugungsarbeit geleistet und diese Überzeugungsarbeit hat dich zu einem Abschluss geführt.
RICARDO Denk an deine Abschlüsse. Führe ein Gespräch und mach einen Abschluss. Schließ das Gespräch mit einem Abschluss ab. Sprich mit Menschen. Sprich mit Menschen und schließ das Gespräch mit einem Abschluss ab.
MARTIN Ich habe meinem Vater und meiner Mutter und meiner Schwester diese Aktien, die zwar Aktien waren, sich aber nicht wie Aktien verhalten haben, verkauft. Ich habe ihnen diese sehr sicheren Aktien verkauft. Und jetzt sprechen sie nicht mehr mit mir. Sie sprechen einfach nicht mehr mit mir.
JULIA Und warum nicht?
RICARDO Das ist eine übertriebene Reaktion.
JULIA Warum reagieren deine Eltern so?
MARTIN Sie sagen, sie haben ihr ganzes Geld verloren. Sie haben ihre Altersvorsorge verloren.
JULIA Ich habe auch meiner Mutter diese Aktien verkauft, und als diese Aktien so gefallen sind, hat meine Mutter nur gesagt, da kann man nichts machen. Sie hat einfach nur gesagt, da kann man nichts machen. Und ich verstehe nicht, dass deine Eltern das nicht gesagt haben.
RICARDO Wenn man nichts mehr machen kann, ist es auch besser zu sagen, da kann man nichts mehr machen.
JULIA Dass der Kurs einmal fallen wird, war extrem unwahrscheinlich.
RICARDO Mit extrem unwahrscheinlichen Fällen kann man nicht rechnen. Die Möglichkeit von extrem unwahrscheinlichen Fällen darf nicht die Grundlage von Entscheidungen sein.
JULIA Diese Aktien sind fünfzehn Jahre lang nur gestiegen.
RICARDO Man lügt nicht, wenn man das sagt. Man braucht sich nur den Kurs anzusehen.
JULIA Dass der Kurs dieser Aktien einmal fallen wird, war extrem unwahrscheinlich.
RICARDO Du musst deinen Eltern die Kursentwicklung zeigen. Haben sie sich die Kursentwicklung angesehen?
JULIA Zeig deinen Eltern diese Linie. Fünfzehn Jahre lang hat diese Linie nur nach oben geführt.
MARTIN Ich habe meine Mutter angerufen und sie hat gesagt, dass sie nur abgehoben hat, um mir mitzuteilen, dass ich nicht mehr anrufen soll. Sie wollen nicht mehr mit mir sprechen. Sie wollen nicht, dass ich noch einmal ihr Haus betrete.
JULIA Und warum nicht?
RICARDO Du kannst nichts dafür, dass die Aktien gefallen sind.
JULIA Die Bürogebäude und Fachmarktzentren stehen immer noch.
RICARDO Die Bürogebäude und Fachmarktzentren haben sich nicht verändert.
JULIA Die Aktien sind abgestürzt, aber die Bürogebäude und Fachmarktzentren stehen immer noch.
RICARDO Das musst du deinen Eltern sagen.
JULIA Zeig ihnen noch einmal den Prospekt. Zeig ihnen noch einmal die Fotos. Dafür ist der Prospekt ja da.
2
MARTIN Ich habe diese Aktien nicht nur meinem Vater und meiner Mutter verkauft, sondern auch den anderen. Und jetzt reagieren auch die anderen so wie mein Vater und meine Mutter. Wenn sie am Telefon meine Stimme hören, legen sie sofort wieder auf.
JULIA Und das lässt du dir gefallen?
MARTIN Sie sprechen nicht mehr mit mir. Sie legen wieder auf, obwohl wir befreundet sind.
RICARDO Das stimmt. Man muss mit seinen Kunden befreundet sein.
JULIA Lass dir das nicht gefallen. Lass dir so etwas nicht gefallen.
MARTIN Ich habe mit meinen Kunden ein Freundschaftsverhältnis, aber jetzt will keiner von ihnen mehr etwas davon wissen.
RICARDO Man braucht so lange dazu, ein Freundschaftsverhältnis aufzubauen, und dann löst es sich von einem Tag auf den anderen in Luft auf. Wegen eines Aktienkurses. Ein Aktienkurs darf ein Freundschaftsverhältnis aber nicht in Luft auflösen.
MARTIN Ich möchte es ihnen erklären.
JULIA Was willst du ihnen erklären?
MARTIN Ich muss ihnen alles erklären.
JULIA Willst du ihnen erklären, warum es zu diesem Absturz gekommen ist? Das kannst du ihnen nicht erklären.
RICARDO Hat dir das jemand erklärt? Hat uns das jemand erklärt?
JULIA Das ist viel zu kompliziert. Das kannst du deinen Kunden nicht erklären. Das dauert viel zu lange. So lange hören dir deine Kunden nicht zu.
MARTIN Ich muss mit ihnen reden, aber wenn sie sofort wieder auflegen, kann ich nicht mit ihnen reden.
RICARDO Wenn deine Kunden sofort wieder auflegen, dann musst du dich fragen, was das für Kunden sind.
JULIA Was sind das für Kunden, die das Telefon wieder auflegen, wenn ein Freund anruft?
RICARDO Kunden, die sofort wieder auflegen, sind überhaupt keine Kunden mehr.
MARTIN Ich weiß. Ich habe Kunden, die nicht mehr mit mir reden wollen. Ich habe Kunden, die keine Kunden mehr sein wollen. Ich habe Kunden, die jetzt irgendwas anderes sein wollen. Ich habe Kunden, die sich nicht mehr als meine Kunden definieren. Ich habe Kunden, die den Kundenstatus verlassen haben.
JULIA Mit Kunden, die keine Kunden mehr sein wollen, machst du keinen Umsatz.
RICARDO Kunden, die keine Kunden mehr sein wollen, sind tote Kontakte.
JULIA Mit diesen toten Kontakten machst du keinen Umsatz. Und wenn du keinen Umsatz machst? Wenn du einen Monat lang keinen Umsatz machst?
MARTIN Ich muss neue Kunden finden.
RICARDO Du brauchst dreihundert bis fünfhundert Kunden. Das weißt du. Man braucht dreihundert bis fünfhundert Kunden und jeden muss man regelmäßig kontaktieren.
MARTIN In der letzten Woche habe ich nur vier Termine gehabt.
RICARDO Du brauchst mindestens zehn Termine.
MARTIN So viele habe ich schon lange nicht mehr gehabt.
RICARDO Mit weniger als zehn Terminen bringst du dich in Gefahr.
JULIA Ich habe auch nicht jede Woche zehn Termine.
RICARDO Aber mit weniger als zehn Terminen bringst du dich in Gefahr. Das musst du ändern. Du musst deine Terminquote erhöhen. Deine Terminquote ist zu niedrig. Das ist doch offensichtlich.
JULIA Du stehst am Morgen auf und denkst, das wird ein guter Tag, aber dann siehst du in deinem Kalender, dass du an diesem Tag keine Termine hast, und dann wird es statt einem guten Tag nur ein Tag ohne Termine.
RICARDO An einem Tag ohne Termine musst du wenigstens telefonieren.
MARTIN Wenn du Telefonnummern hast.
JULIA Wenn du Empfehlungen hast.
RICARDO Du musst telefonieren. Telefonieren und Termine machen.
MARTIN Wenn du Telefonnummern hast.
JULIA Ohne Telefonnummern kannst du nicht telefonieren.
RICARDO Du musst telefonieren. Immer. Du musst Termintelefonate machen. Wenn ich meine Termintelefonate mache, dann sitze ich nicht, sondern ich stehe oder gehe umher. Das macht die Stimme kraftvoller. Wer sind deine Zielpersonen? Du musst wissen, wer deine Zielpersonen sind. Wo sind deine Zielpersonen? Wo leben sie? Wo arbeiten sie? Wo verstecken sie sich? Du musst deine Zielpersonen finden.
JULIA Wenn du in deinem Kalender siehst, dass du an diesem Tag keine Termine hast, dann weißt du, das wird wieder einmal ein Tag ohne einkommenswirksame Handlungen.
MARTIN Das stimmt. Das sind die Tage ohne einkommenswirksame Handlungen.
JULIA Und diese Tage ohne einkommenswirksame Handlungen belasten deinen Monat.
MARTIN Die belasten dein Monatsergebnis.
JULIA Du solltest pro Tag mindestens fünf einkommenswirksame Handlungen setzen.
MARTIN Aber wenn du keine Empfehlungen und keine Telefonnummern hast, dann kannst du keine einkommenswirksamen Handlungen setzen.
JULIA Du kannst keine einkommenswirksamen Handlungen setzen und deswegen besorgst du Papier für den Drucker. Das Papier legst du sorgfältig in den Drucker ein, jedes Blatt einzeln, damit keine Blätter zusammenkleben. Das dauert eine halbe Stunde. Oder mehr. Oder du ordnest Rechnungen ein. Du ordnest sie ein und nimmst sie wieder heraus, weil du irgendeinen kleinen Fehler gemacht hast. Oder du führst ein privates Telefonat.
MARTIN Weil du keine einkommenswirksamen Handlung setzen kannst, führst du ein privates Telefonat. Und für dieses private Telefonat schämst du dich dann. Du weißt, du hast statt einer einkommenswirksamen Handlung ein privates Telefonat geführt.
JULIA Ein privates Telefonat, das absolut nicht notwendig gewesen wäre.
MARTIN Ein privates Telefonat, auf das du leicht verzichten hättest können. Aber du hast nicht darauf verzichtet.
JULIA Und am Abend hast du dann einen Arbeitstag ohne einkommenswirksame Handlungen hinter dir. Einen anstrengenden Arbeitstag ohne Arbeit und ohne Einkommen. Und du weißt, dass du dir diese Arbeitstage ohne Arbeit und Einkommen nicht sehr lange leisten kannst.
3
MARTIN Ich muss unbedingt neue Kunden finden. Ich muss Kunden finden, die sich auch als Kunden definieren wollen. Ich muss Kunden finden, die im Kundenstatus bleiben wollen.
RICARDO Schreib alle Namen auf, die dir einfallen. Alle Namen, an die du dich erinnern kannst.
JULIA Alle Namen, die du jemals gehört hast.
RICARDO Zu den Namen die Telefonnummer, die Adresse, den Beruf, das Einkommen, das Alter, den Familienstand.
JULIA Ich habe einmal alle aufgeschrieben, mit denen ich in der Schule war. Alle, die in meiner Klasse gewesen sind und alle, die ich aus den anderen Klassen gekannt habe. Ich habe ihre Telefonnummern recherchiert. Dann habe ich sie angerufen.
RICARDO Wenn sich jemand nicht an dich erinnern kann, dann darf dir das nichts ausmachen. Das schlechte Gedächtnis von anderen darf dir nichts ausmachen.
JULIA Zuerst musst du über früher, über die Vergangenheit sprechen.
RICARDO Dann das Gespräch auf die Altersvorsorge lenken.
JULIA Das Gespräch in die Geld-Richtung lenken.
MARTIN Ich brauche unbedingt neue Kunden. Das weiß ich. Ich muss neue Kunden finden.
RICARDO Ein Mitteleuropäer kennt durchschnittlich zweihundertfünfzig Personen. Zweihundertfünfzig Personen sind zweihundertfünfzig Kunden.
JULIA Zweihundertfünfzig Personen sind zweihundertfünfzig Namen, die man aufschreiben kann.
RICARDO Du darfst nicht nur die aufschreiben, die dir sympathisch sind.
JULIA Du darfst keine Auswahl treffen.
RICARDO Schreib auf, wen du in deinem Leben kennengelernt hast. Egal, ob sich jemand noch an deinen Namen erinnern kann oder nicht.
JULIA Schließ niemanden aus.
RICARDO Ich habe in meinem Haus die Namen auf den Türschildern abgeschrieben. Ich habe in den Nachbarhäusern die Namen auf den Schildern abgeschrieben. Ich habe in der ganzen Straße die Namen auf den Schildern abgeschrieben. Schließ nie jemanden aus.
JULIA Oder du machst Direktkontakte. Du entscheidest dich für Direktkontakte. Wenn ich vor einem Regal im Supermarkt stehe und jemand neben mir steht, dann spreche ich ihn an. Ich suche nach einer Möglichkeit, ihn anzusprechen. Ich sehe mir seine Kleidung an, ich suche daran nach etwas, auf das ich ihn ansprechen kann. Und dann spreche ich ihn an. Wenn ich jemanden im Supermarkt angesprochen habe, frage ich ihn zum Beispiel, ob er auch in der Nähe wohnt. In welcher Straße. In welchem Haus. Dann sage ich, dass wir Nachbarn sind. Und dann sage ich, dass ich für meine Kunden ein Ansprechpartner in allen Geldfragen bin. Ich sage, dass meine Stärke die private Altersvorsorge ist. Oder ich sage, ich bin ein unabhängiger Ansprechpartner in allen Geldfragen und meine Spezialität sind die steuerlichen Abschreibemöglichkeiten für Jungunternehmer. Oder ich sage, ich bin ein unabhängiger Ansprechpartner in allen Geldfragen und meine Spezialität sind die internationalen Kapitalanlagen. Du musst ständig kontaktieren. Ständig eine Kontaktatmosphäre schaffen. Wenn jemand neben dir steht, dann musst du ihn ansprechen. Du musst dich aufgefordert fühlen, ihn anzusprechen. Du bist dazu aufgefordert, ihn mit einer freundlichen Stimme anzusprechen. Und am Ende musst du zu ihm sagen, dass du ihm helfen könntest, viel Geld zu sparen.
MARTIN Um Direktkontakte zu machen, muss man kontaktfähig sein.
JULIA Du bist kontaktfähig.
MARTIN Das stimmt. Ich bin kontaktfähig.
RICARDO Für Direktkontakte musst du außergewöhnlich kontaktfähig sein.
MARTIN Ich bin außergewöhnlich kontaktfähig. Wenn ich nicht außergewöhnlich kontaktfähig wäre, könnte ich diesen Beruf gar nicht ausüben.
RICARDO Du musst dich zum Beispiel jeden Tag am Abend fragen, ob du heute jemanden kennengelernt hast. Ob du einen neuen Menschen kennengelernt hast. Hast du heute jemanden kennengelernt?
MARTIN Ich bin außergewöhnlich kontaktfähig. Ich bin außergewöhnlich kontaktfähig.
RICARDO Wenn du keinen neuen Menschen kennengelernt hast, bist du nicht außergewöhnlich kontaktfähig.
MARTIN Warum sagst du das?
RICARDO Du hast heute niemanden kennengelernt.
MARTIN Warum sagst du so etwas zu mir?
RICARDO Du hast einen Tag verstreichen lassen, ohne jemanden kennenzulernen.
MARTIN Ich werde morgen jemanden kennenlernen. Ich werde morgen jemanden ansprechen. Ich werde gleich in der Früh jemanden ansprechen. Das weiß ich. Ich werde ihn in ein Gespräch verwickeln. Das weiß ich. Ich werde sagen, dass ich ihm helfen könnte, viel Geld zu sparen. Das weiß ich.
JULIA Vor zwei Wochen habe ich in einem Elektronikfachmarkt einen Mann angesprochen. Er stand neben mir vor dem Regal mit den Zubehörartikeln für Handys. Ich habe so getan, als würde ich nach einem Kabel suchen, während er sich ein Headset angesehen hat. Ich habe ihn gebeten, mir einen Rat zu geben, welches Kabel das richtige für mein Handy wäre. So sind wir ins Gespräch gekommen. Wir haben uns sofort gut verstanden. Er wollte gar nicht mehr aufhören, sich mit mir zu unterhalten. Schließlich habe ich ihn nach seinem Namen gefragt. Seine Telefonnummer hat er mir von ganz allein gegeben. Am nächsten Tag habe ich ihn angerufen und ein Treffen vorgeschlagen. Er lebt allein. Und er hat keine Kinder. Als wir uns in einem Café getroffen haben, hat er mir von seiner letzten Beziehung erzählt. Dabei hat er einen ziemlich unglücklichen Eindruck gemacht. Er kommt nicht davon los. Aus diesem Grund macht er auch eine Therapie.
RICARDO Hast du ihm nicht erzählt, was du machst?
JULIA Am Ende habe ich zu ihm gesagt, dass ich für meine Kunden ein Ansprechpartner in allen Geldfragen bin und dass meine Stärke die private Altersvorsorge ist. Das hat ihn überrascht. Das hat ihn sehr überrascht.
MARTIN Warum?
JULIA Ich bin draufgekommen, dass er noch keine Lebensversicherung hatte. Er ist über vierzig und hatte bisher noch keine Lebensversicherung.
RICARDO Es gibt also immer noch Menschen, die keine Lebensversicherung haben.
MARTIN Als hätten sie noch nie das Wort Lebensversicherung gehört.
RICARDO Es gibt also immer noch Menschen, die noch nie über eine Lebensversicherung nachgedacht haben.
MARTIN Und uns erzählt man, dass der Markt so gut wie gesättigt ist.
RICARDO Das stimmt überhaupt nicht.
MARTIN Der Markt ist nicht gesättigt. Der Markt für Lebensversicherungen ist nicht gesättigt. Dieser Markt ist nicht satt. Es gibt immer noch ein Potential.
RICARDO Hast du ihm eine Lebensversicherung verkauft?
JULIA Ich habe ihm eine verkauft. Niklas hat sich bis jetzt überhaupt viel zu wenig Gedanken um das Sparen und den Vermögensaufbau gemacht. Ich habe ihm gesagt, dass er mehr sparen muss. Ich habe ihm die Defizite bei seiner Vorsorge aufgezeigt. Ich habe zu ihm gesagt, dass ich ihm dabei helfen kann zu sparen.
RICARDO Sonst wird er später einmal arm sein.
JULIA Das stimmt. Sonst wird er arm sein.
RICARDO Hast du ihm dieses Szenario geschildert?
JULIA Ich habe zu ihm gesagt, dass man zum Sparen gezwungen werden muss.
MARTIN Man muss sich helfen lassen. Man muss zulassen, dass man gezwungen wird. Man muss den Zwang zulassen, sonst wird man einmal bettelarm sein.
JULIA Seitdem ich ihm die Lebensversicherung verkauft habe, geht es ihm besser. Ich glaube, er denkt auch nicht mehr so viel über seine gescheiterte Beziehung nach. Seitdem ich ihm die Lebensversicherung verkauft habe, ruft er mich regelmäßig an.
RICARDO Das ist gut.
JULIA Er ruft mich einmal am Vormittag und einmal am Nachmittag an. Vielleicht ist das ein bisschen zu oft. Ich freue mich über die Anrufe. Aber ist das nicht zu oft?
RICARDO Besser als zu selten angerufen zu werden.
MARTIN Was will er jedes Mal wissen?
JULIA Er hat mich gefragt, wo ich geboren bin. Er wollte wissen, wie meine Kindheit war. Er hat mich nach meinen Eltern gefragt.
MARTIN Er baut Vertrauen zu dir auf.
RICARDO Das stimmt. Er stellt gerade Vertrauen zu dir her.
MARTIN Erzähl ihm, was er wissen will. Lass ihn Vertrauen zu dir aufbauen.
JULIA Er will Details aus meinem Leben wissen. Er interessiert sich für biographische Details. Aber diese biographischen Details möchte ich ihm nicht erzählen.
MARTIN Und warum nicht?
RICARDO Diese biographischen Details braucht er, um Vertrauen zu dir aufzubauen.
JULIA Aber das sind Geheimnisse.
MARTIN Was meinst du damit?
RICARDO Was meinst du mit Geheimnissen?
MARTIN Ich habe vor meinen Kunden keine Geheimnisse. Meine Kunden würden nicht verstehen, wenn ich versuchen würde, etwas vor ihnen zu verbergen.