Zwölf Arten von Umkehr
© Robert Woelfl
Textausschnitt
Der erste Abschnitt führte durch dichten Nadelwald. An den Hängen rechts und links standen Fichten und Lerchen, eng beieinander. Die Äste schlossen sich zu undurchdringlicher Dunkelheit zusammen. An den Baumstämmen kletterte Moos hinauf.
Direkt neben dem Weg wuchsen Haselnusssträucher und Farne. Eine Zeit lang floss ein Bach neben dem Weg her, bis er sich unter einem Felsen verlor. Als um halb sechs die Sonne aufging, warfen die Äste über ihnen noch immer einen Schatten, der feucht und kalt war.
Julian hatte ihnen geraten, die Jacken mitzunehmen. Das stellte sich als weiser Ratschlag heraus.
Anfangs bildeten sie zusammen eine einzige große Gruppe. Erst als sie vom Forstweg auf einen schmalen Pfad abbogen, auf dem nur mehr zwei Personen nebeneinander Platz fanden, zerriss die Gruppe. Von da an gingen April und Januar an der Spitze, dann folgte, mit einigem Abstand, Oktober, dahinter kamen Juni und Dezember. Dann die anderen. Als letzter marschierte November.
Je länger sie unterwegs waren, desto größer wurden die Abstände zwischen ihnen. November blieb manchmal weit zurück und musste sich dann beeilen, die anderen einzuholen. Wobei auch er, so wie alle, angegeben hatte, körperlich fit und belastbar zu sein.
Das Frühstück hatte aus Brot mit Butter und Graukäse bestanden. In der Zwischenzeit waren sie alle schon wieder hungrig. Keiner blieb aber stehen oder setzte sich auf einen Baumstamm, jeder verzehrte seinen Proviant im Gehen.
Später und mit zunehmender Höhe wurde der Wald lichter. Die Bäume rückten voneinander weg. Am Boden wuchsen jetzt Königskerzen und Schafgarben und Zittergras.
Als sie den Wald hinter sich gebracht hatten, leuchtete ihnen der Tag hell und freundlich entgegen. Jetzt führte der Weg in großen Kehren bergan. Auf den stoppeligen Almwiesen standen Kühe und rupften Gras. Es waren hellgraue Tiere mit kurzen Hörnern. Hoch über ihnen zogen Dohlen ihre Kreise.
Der Aufstieg würde sechs Stunden dauern. Hatte Julian gesagt. Eigentlich hätten sie schon da sein müssen. Aber es dauerte noch eine weitere Stunde, bis vor ihnen der Gipfel auftauchte und rechts davon der Grat, der das erste Ziel war.
Man hätte sie für eine Gruppe von Freunden mit gleichen Interessen halten können. Alle zwischen dreißig und vierzig. Jeder vor dem nächsten Karrieresprung. Oktober hatte am Steilhang April und Januar überholt und ging jetzt an der Spitze. Nicht, weil er um jeden Preis der Erste sein wollte, sondern weil er in den Beinen mehr Kraft hatte als die anderen. Während bei den anderen irgendetwas Weiches an den Knochen hing, verfügte er über Muskeln. Jetzt zahlte es sich aus, dass er regelmäßig joggen ging.
Seine gute Kondition konnte jedoch nicht verhindern, dass er schwitzte. Unter der hellgrauen Kappe aus Kunststoff, die er gegen die Sonne trug, sammelte sich der Schweiß. Wenn er sie abnahm, fielen ihm die nassen Haare in die Stirn.
Das Gesicht hatte er sich eingecremt. Auch die Ohren. Zur Sicherheit mit Lichtschutzfaktor fünfzig. Um so gut wie möglich vorbereitet sein. Damit seine Finger nicht anschwollen, hakte er die Daumen bei den Trägern des Rucksacks ein. Das kannte er schon. Wenn er beim Gehen die Hände baumeln ließ, wurden die Finger dick wie Würste. Es war besser, sie in Brusthöhe zu halten.
Weil es keinen Unterschied machte, ob er als erster oben ankam oder nicht, blieb er stehen und wartete auf April und Januar.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemand in sechs Stunden schafft, sagte er.
In ungefähr sechs Stunden, hat Julian gesagt, antwortete April darauf.
Dazu müsste man Extrem-Sportler sein.
Wenigstens sieht man schon den Grat, sagte Januar.
Stimmt. Den Grat. Und wo ist die Hütte? fragte April.
Dahinter, sagte Januar.
Woher weißt du das?
Julian hat es doch gesagt.
Wann?
Vom Grat geht man auf der anderen Seite wieder ein paar Schritte hinunter, sagte Januar. Julian hat es genau erklärt. Hast du nicht zugehört?
Januar kam aus Hamburg und war der festen Überzeugung, klüger zu sein als jedes andere menschliche Wesen. Davon hatten sie sich in den letzten Tagen überzeugen können.
Sie marschierten weiter. Hintereinander. Oktober als letzter der Dreier-Gruppe. Von den anderen war von der Stelle aus, wo sie sich jetzt befanden, nichts zu sehen.
Am Boden standen neben dem Weg niedrige Wacholdersträucher. Oktober bückte sich, um ein paar Beeren zu pflücken. Sie waren grün und unreif, aber sie hatten bereits den typischen Geruch.
Oktober wusste nicht, wie viele Punkte er bis jetzt gesammelt hatte. Niemand kannte seinen Punktestand. Den würden sie erst heute Abend erfahren. Oktober war sich sicher, dass er mehr Punkte hatte als September und Februar, und wahrscheinlich auch mehr als Mai und August. Er nahm an, dass er mehr hatte als sechs von ihnen. Blieben nur zwei, die er auf alle Fälle noch überholen musste. Nein, drei. Er musste ja unter die ersten drei kommen. Nur die besten drei wurden ganz bestimmt genommen. Als vierter saß man auf dem Hoffnungssitz. Aber was machte ihn so sicher, dass er mehr hatte als zumindest sechs von ihnen?
Er glaubte, dass er beim Mathematik-Test besser abgeschnitten hatte als die Frau aus Rom und besser auch als der Typ aus Madrid. Und beim Konzentrationstest war er auf jeden Fall besser gewesen als die Inderin und wahrscheinlich auch besser als der Typ aus Leipzig. Deshalb musste er einfach unter den ersten sechs sein. Der Typ aus Madrid hatte Beziehungsprobleme, seine Frau arbeitete in Lissabon und wollte nicht zu ihm nach Madrid ziehen. Beziehungsprobleme waren das letzte, was man an solchen Tagen brauchen konnte. Zum Glück, wirklich zum Glück, hatte er zurzeit einmal keine Probleme. Linda war argwöhnisch gewesen und hatte nach Beweisen gesucht, aber sie hatte nichts gefunden. Und Doktor Horváth hatte bei der Untersuchung Angst gehabt, etwas zu finden, mehr Angst als er selbst, aber er hatte nichts gefunden. Auch im Labor hatten sie nichts gefunden. In seiner alten Firma hatte man nach allen möglichen Hinweisen gesucht, ob er vielleicht einmal einen Fehler gemacht hatte, der die Firma viel Geld gekostet hatte, aber auch dort hatte man nichts gefunden. Nichts. Er würde mit Linda zusammenbleiben, er konnte das Auto behalten, er bekam die Abfertigung. Es war alles in Ordnung. Darüber hinaus war er ein optimistischer Mensch. Aus diesem Grund würde er unter die ersten drei kommen.
Für den Fall, dass es ihm wirklich gelang, bei den ersten drei dabei zu sein, hatte er sich folgendes vorgenommen: Er würde Linda auf ein Gefühls-Wochenende in Paris einladen. In ein Fünf-Sterne-Hotel. Sie waren noch nie zusammen in Paris gewesen, und er hatte es ihr schon seit Jahren versprochen.
Er holte seinen Rucksack vom Rücken und suchte nach den Keksen. Er hatte für jeden Tag eine Packung Chocolate Gingers von Island Bakery eingepackt. Zu seiner Liebe für Whisky gehörte eine Liebe für schottische Kekse.
Er ließ April und Januar, die sich miteinander unterhielten, vorangehen und beschloss, auf die nächsten zu warten. Das waren Juni und Dezember, die eine viertel Stunde später auf dem Weg auftauchten.
Ende des Textausschnitts
© Robert Woelfl Alle Rechte beim Autor